Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
durch Volksverdummung und Aufstachelung blinder Leidenschaften verteidigt wird. Solcher Methoden kann ein Staat, der wert ist, verteidigt zu werden, leicht entraten. Dennoch neigen ihnen jene von Natur aus zu, die selbst keine Bildung aus erster Hand empfangen haben. Die Meinung, dass einheitliches Denken und die Unterdrückung der Freiheit die Völker stark machen, ist weit verbreitet. Immer wieder hört man, dass die Demokratie ein Land in Kriegszeiten schwäche, trotzdem in allen bedeutenden Kriegen seit 1700 der Sieg den mehr demokratisch eingestellten Ländern zufiel. Völker sind viel öfter durch ihr Verharren in engstirniger doktrinärer Einheitlichkeit zugrunde gegangen als durch freie Diskussion und Duldung entgegengesetzter Meinungen. Die Dogmatiker aller Welt glauben, dass sie zwar im Besitze der Wahrheit seien, andere aber zu falschen Überzeugungen verleitet würden, wenn man ihnen gestattet, beide Parteien zu hören. Aus dieser Geisteshaltung entspringen notwendig die beiden folgenden Übel: entweder eine einzige dogmatische Schule erobert die ganze Welt und unterdrückt alle neuen Ideen, oder, was noch schlimmer ist, dogmatische Nebenbuhler erobern verschiedene Teile der Welt und predigen das Evangelium des Hasses gegeneinander. Der erstgenannte Übelstand herrschte im Mittelalter, der zweite während der Religionskriege und neuerdings in unserer Zeit. Der erste lässt die Kultur erstarren, der zweite läuft auf ihre völlige Vernichtung hinaus. Vor beiden sollte uns in erster Linie der Lehrer bewahren.
Es liegt auf der Hand, dass der organisierte Parteigeist eine der größten Gefahren unserer Zeit ist. In der Form des Nationalismus führt er zu Völkerkriegen, in anderen Formen zum Bürgerkrieg.
Aufgabe des Lehrers muss es sein, über dem Parteienstreit zu stehen und der Jugend die unvoreingenommene Untersuchung zur Gewohnheit zu machen; sie anzuleiten, Streitfragen sachlich zu beurteilen, vor einseitigen Behauptungen auf der Hut zu sein und sie nicht unbesehen hinzunehmen. Vom Lehrer darf man keine Zugeständnisse an die Vorurteile des Pöbels oder der Machthaber erwarten. Es sollte der Vorzug seines Berufes sein, bereitwillig allen Parteien gerecht zu werden und sich über die Streitigkeiten hinaus in eine Sphäre leidenschaftsloser wissenschaftlicher Untersuchung zu erheben. Wenn es Leute gibt, denen die Ergebnisse seiner Untersuchung unbequem sind, so sollte er vor ihrem Zorn geschützt werden, es sei denn, dass er sich durch die Verbreitung offenkundiger Lügen nachweislich zu betrügerischer Propaganda hergegeben hat.
Die Aufgabe des Lehrers besteht jedoch nicht allein darin, die Hitze des Meinungsstreites zu dämpfen. Er hat positivere Aufgaben, und er kann kein wahrer Lehrer sein, wenn er nicht von dem Wunsch beseelt ist, diese Aufgaben zu erfüllen. Die Lehrer sind mehr als jeder andere Berufsstand die Hüter der Zivilisation. Sie sollten mit dem Wesen der Zivilisation innig vertraut und bestrebt sein, sie ihren Schülern zu einer Lebensform werden zu lassen. Dies führt uns zu der Frage: Was sind die Voraussetzungen für eine zivilisierte Gemeinschaft?
Diese Frage ließe sich mit dem Hinweis auf rein materielle Gegebenheiten leicht beantworten. Ein Land ist zivilisiert, wenn es viele Maschinen, Autos, Badezimmer und Schnellverkehrsmittel aller Art besitzt. Meines Erachtens messen die meisten Menschen von heute diesen Dingen viel zu viel Bedeutung bei. Zivilisation im tieferen Sinn des Wortes ist etwas Geistiges, kein bloßes materielles Anhängsel zur leiblichen Seite des Lebens. Sie ist Sache des Wissens wie des Gemüts. Was das Wissen betrifft, so sollte sich der Mensch der Winzigkeit seiner selbst und seiner unmittelbaren Umgebung im Verhältnis zur Welt in Zeit und Raum bewusst sein. Er sollte sein eigenes Land nicht nur als Heimatland sehen, sondern als eines unter den Ländern der Welt, die alle das gleiche Recht haben, zu leben, zu denken und zu fühlen. Er sollte seine eigene Zeit in ihrem Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft sehen und sich klar darüber sein, dass seine eigenen Streitigkeiten künftige Zeitalter ebenso seltsam anmuten werden, wie uns die der Vergangenheit. Ja, er sollte noch weiter sehen und sich der Unermesslichkeit geologischer Epochen und astronomischer Abgründe bewusst werden; in dem Wissen um alle diese Dinge aber darf er keine Bürde erblicken, die den Geist des Einzelnen erdrückt, sondern eine ungeheure Schau, die den Geist ihres Beschauers
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