Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
können. Leute, die das Unterrichten nicht gewöhnt sind – und dazu gehören praktisch alle Unterrichtsbehörden – haben keine Ahnung, wie sehr man sich dabei geistig verausgaben muss. Von Geistlichen erwartet man nicht, dass sie jeden Tag mehrere Stunden predigen; vom Lehrer jedoch verlangt man eine Anstrengung, die dieser gleichkommt. Infolgedessen werden viele Lehrer gedrückt und nervös, verlieren den Kontakt mit der neueren Forschung in ihren Lehrfächern und werden unfähig, ihren Schülern eine Ahnung der geistigen Genüsse zu vermitteln, die aus neugewonnenem Verstehen und Wissen entspringen.
Doch das ist keineswegs das Schlimmste. In den meisten Ländern sind gewisse Überzeugungen als richtig anerkannt, andere gelten als gefährlich. Lehrer, deren Überzeugungen nicht richtig sind, haben darüber zu schweigen. Sprechen sie sie aus, so gilt das als Propaganda, während die Äußerung richtiger Überzeugungen eben gesunde Unterweisung ist. Die Folge ist, dass die Jugend ihre Fragen oft außerhalb der Schule stellen muss, um zu erfahren, was von den führenden Köpfen ihrer Zeit gelehrt wird. In Amerika gibt es einen Gegenstand »Staatsbürgerkunde«; die Unterweisung darin ist zwangsläufig irreführender als die in jedem anderen Fach. Die Schüler erhalten einen für den Schulgebrauch bearbeiteten Text vorgesetzt, wie die Staatsgeschäfte angeblich geführt werden; jede Einsicht in die wirklichen Vorgänge wird ihnen sorgfältig vorenthalten. Wenn sie als Erwachsene dann erkennen, wie die Dinge wirklich liegen, verfallen sie daher nur zu oft einem radikalen Zynismus, in dem alle staatsbürgerlichen Ideale verloren gehen; hätte man ihnen schon früher mit Bedacht und unter entsprechender Anleitung die Wahrheit beigebracht, so hätten sie vielleicht zu Kämpfern werden können gegen die Missstände, mit denen sie sich nun achselzuckend abfinden.
Die Vorstellung, dass Falschheit erbaulich sei, ist ein eingefleischtes Laster derer, die Unterrichtspläne entwerfen. Ich selbst würde einen Mann erst dann für einen guten Lehrer halten, wenn er den festen Entschluss gefasst hat, in seinem Unterricht niemals die Wahrheit zu verheimlichen, weil sie »unerbaulich« ist. Jene Tugend, die aus wohlbehütetem Unwissen entspringt, steht auf schwachen Füßen und erliegt bei der ersten Berührung mit den Tatsachen. Auf dieser Welt gibt es viele bewundernswerte Menschen, und es ist gut, der Jugend vor Augen zu halten, warum diese Menschen bewundernswert sind. Aber es ist nicht gut, sie zur Bewunderung von Schurken anzuleiten, indem man deren Schurkerei verheimlicht. Man meint, das Wissen um die wahren Verhältnisse würde zum Zynismus führen; das wird es auch, wenn dieses Wissen als schreckliche Überraschung unvermittelt hereinbricht. Kommt es jedoch allmählich, entsprechend gepaart mit dem Wissen um das Gute und geleitet von dem Wunsche, auf wissenschaftlichem Wege zur Wahrheit zu gelangen, dann wird es keineswegs so wirken. Abgesehen davon ist es moralisch unhaltbar, die Jugend zu belügen, da sie nicht imstande ist, solche Behauptungen auf ihre Richtigkeit zu prüfen.
Soll die Demokratie erhalten bleiben, so muss ein Lehrer in seinen Schülern vor allem jenen Geist der Duldsamkeit wecken, der aus dem Bemühen entspringt, Menschen, die anders sind als wir, zu verstehen. Es ist vielleicht eine natürliche Regung des Menschen, alle Sitten und Gebräuche, die von den unseren verschieden sind, mit Abscheu und Widerwillen zu betrachten. Die Ameisen und die Wilden töten Fremde. Und wer nie gereist ist, weder in Person noch im Geiste, dem fällt es schwer, die seltsamen Sitten und rückständigen Überzeugungen anderer Völker und Zeiten, anderer Sekten und politischer Parteien zu ertragen. Diese aus der Unwissenheit geborene Intoleranz ist das gerade Gegenteil einer zivilisierten Geisteshaltung und eine der schwersten Gefahren, denen unsere überfüllte Welt ausgesetzt ist. Man müsste das Unterrichtswesen darauf abstellen, ihr zu begegnen, doch geschieht derzeit in dieser Richtung viel zu wenig. In jedem Lande wird das Nationalbewusstsein gestärkt, und den Schulkindern erzählt man – was sie nur zu gern glauben – dass die Bewohner anderer Länder moralisch und geistig denen jenes Landes unterlegen sind, dem die Schulkinder zufällig angehören. Die Massenhysterie, das verrückteste und grausamste aller menschlichen Gefühle, wird noch geschürt anstatt bekämpft, und die Jugend ermutigt man in ihrem Glauben an
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