Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
ihm keinen Kälteschutz bot, noch kaum wettgemacht. In jenen Tagen muss die Gesamtzahl der Menschen zweifellos äußerst gering gewesen sein. Der Hauptzweck, dem die Menschheit im Laufe der Zeit ihre technischen Errungenschaften dienstbar machten, war die Vermehrung ihrer Gesamtzahl. Ich behaupte nicht, dass das ihre Absicht war; allein es war das tatsächliche Ergebnis. Wenn dies ein Grund zur Freude ist, dann können wir uns darüber freuen.
Wir sind auch in gewisser Hinsicht den Tieren immer unähnlicher geworden. Ich denke da besonders an zwei Dinge: erstens, dass erworbene Fähigkeiten, im Gegensatz zu angeborenen, im Leben des Menschen eine immer größere Rolle spielen, und zweitens, dass sein vorausschauendes Denken sein impulsives Handeln mehr und mehr bezähmt. In diesen beiden Punkten sind wir zweifellos den Tieren unähnlicher geworden.
Was das Glücklichsein betrifft, so bin ich da nicht so sicher. Gewiss gehen im Winter Scharen von Vögeln an Hunger zugrunde, wenn sie keine Zugvögel sind. Aber während des Sommers sehen sie dies schreckliche Ende nicht voraus, erinnern sich auch nicht mehr, wie knapp sie ihm im vergangenen Winter entronnen sind. Anders der Mensch. Ich weiß nicht, ob der Prozentsatz der Vögel, die im heurigen Winter (1946-47) an Hunger zugrunde ging, so groß ist wie der Prozentsatz an Menschen, der während derselben Zeit in Indien und Mitteleuropa verhungert ist. Aber dem Hungertod jedes einzelnen Menschen geht eine lange Angst voraus, und die Angst der ihm Nahestehenden begleitet ihn. Wir erleiden ja nicht nur die Übel, die uns selbst befallen, sondern auch alle die, von denen uns der Verstand sagt, dass wir sie zu fürchten haben. Die vorbedachte und besonnene Unterdrückung unserer Impulse verhütet körperliches Übel um den Preis von Sorge und Verdruss; »dafür ist uns auch alle Freud' entrissen«. Ich glaube nicht, dass die Gelehrten meines Bekanntenkreises, selbst wenn sie ein gesichertes Einkommen beziehen, so glücklich sind wie die Mäuse, die die Brosamen von ihrem Tische verzehren, während die gelehrten Herren ihr Nickerchen machen. Daher glaube ich nicht, dass in dieser Richtung überhaupt Fortschritte erzielt worden sind.
Anders steht es jedoch um die Mannigfaltigkeit der Vergnügungen. Ich las einmal von Löwen, denen man einen Film vorführte, der wilde Löwen auf ihren erfolgreichen Raubzügen zeigte; unsere Löwen konnten jedoch der Filmvorführung nichts abgewinnen. Nicht nur Musik, Dichtung, und Wissenschaft, sondern auch Fußball, Baseball und Alkohol bereiten Tieren keinerlei Vergnügen. Daher hat uns gewiss unser Verstand in die Lage versetzt, viel mannigfaltigere Vergnügungen zu genießen als die Tiere; doch haben wir diesen Vorteil damit erkauft, dass wir uns viel leichter langweilen als sie.
Man wird mir freilich einwenden, dass weder die Anzahl noch die Vielfalt der Vergnügungen die Herrlichkeit des Menschen ausmachen, sondern seine geistigen und sittlichen Vorzüge. Es liegt auf der Hand, dass wir mehr wissen als die Tiere, und man betrachtet dies allgemein als einen Vorteil, den wir über sie haben. Ob es wirklich einer ist, mag man bezweifeln. Jedenfalls aber unterscheiden wir uns dadurch vom unvernünftigen Tier.
Hat die Zivilisation uns gelehrt, einander freundschaftlich näherzukommen? Diese Frage ist leicht beantwortet. Die Rotkehlchen (die englische, nicht die amerikanische Spezies) picken ein ältliches Rotkehlchen mit ihren Schnäbeln zu Tode, während der Mensch (die englische, nicht die amerikanische Spezies) einem ältlichen Menschen eine Altersrente gewährt. Innerhalb der Herde sind wir zueinander freundlicher als viele Tierarten; allein in unserer Haltung gegenüber denen, die nicht zu unserer Herde gehören, sind wir trotz aller Sittenlehrer und Prediger so grausam wie nur irgend ein Tier, und unser Verstand verleiht diesen Grausamkeiten ein Ausmaß, das selbst die wildeste Bestie nicht erreicht. Man darf hoffen (freilich nicht sehr zuversichtlich), dass mit der Zeit die menschlichere Haltung sich durchsetzen wird; derzeit sind die Vorzeichen freilich nicht sehr günstig.
All diese verschiedenen Elemente muss man in Betracht ziehen, um festzustellen, welche Ideen der Menschheit am meisten genützt haben. Die Ideen, die hierhergehören, lassen sich allgemein in zwei
Gruppen einteilen: einerseits wissenschaftliche und technische, andrerseits moralische und politische. Ich möchte zunächst die erstgenannten behandeln.
Die
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