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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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die Menschen, so würden die Pferde ihren Göttern Pferdegestalt, die Ochsen Ochsengestalt verleihen und ihre Körper nach dem Ebenbild ihrer verschiedenen Gattungen formen.«
    Einige unter den Griechen benützten ihre Loslösung von der Tradition zum Studium der Mathematik und Astronomie und erzielten in beiden ganz erstaunliche Fortschritte. Die Mathematik wurde von den Griechen nicht wie heute in den Dienst der Technik gestellt; sie war eine Beschäftigung der Vornehmen, die man um ihrer selbst willen schätzte, da sie unumstößliche Wahrheit schenkte und einen übersinnlichen Maßstab an die Hand gab, an dem gemessen die sichtbare Welt an Bedeutung verlor. Nur Archimedes nahm die neuzeitliche Verwendung der Mathematik vorweg, indem er Kriegsmaschinen zur Verteidigung von Syrakus gegen die Römer erfand. Ein römischer Soldat tötete ihn, und die Mathematiker zogen sich wieder in ihren elfenbeinernen Turm zurück.
    Die Astronomie, der sich das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert, vor allem wegen ihres praktischen Nutzens für die Schifffahrt, mit glühendem Eifer widmeten, wurde von den Griechen unter Außerachtlassung jedes praktischen Zweckes studiert, bis sie im späteren Altertum mit der Astrologie verquickt wurde. Sie entdeckten schon sehr früh, dass die Erde rund ist, und schätzten ihren Umfang ziemlich genau. Sie fanden Methoden zur Berechnung der Entfernung zur Sonne und zum Mond, und Aristarch von Samos entwickelte sogar das vollständige kopernikanische System; aber seine Ansichten wurden von allen seinen Nachfolgern bis auf einen abgelehnt, und nach dem dritten Jahrhundert v. Chr. wurde kein bedeutender Fortschritt mehr erzielt. Zur Zeit der Renaissance wurde jedoch einiges von den Leistungen der Griechen bekannt und trug viel zum Aufblühen der neuzeitlichen Wissenschaft bei.
    Die Griechen glaubten an Naturgesetze und drückten sie in mathematischen Begriffen aus. Diese Ideen haben sehr weitgehend den Schlüssel zum Verständnis der physischen Welt geliefert, das in der Neuzeit errungen wurde. Aber viele Griechen, unter ihnen Aristoteles, fielen dem Irrglauben zum Opfer, dass die Wissenschaft mit der Idee des Zweckes arbeiten könne. Aristoteles unterschied vier Arten von Ursachen, von denen uns hier nur zwei angehen: die »wirkende« Ursache und die »Zweckursache«. Die wirkende Ursache ist das, was wir die Ursache schlechthin nennen würden; die »Zweckursache« ist der Zweck. Wenn wir beispielsweise ein Gebirge durchwandern und gerade, als unser Durst unerträglich geworden ist, ein Gasthaus finden, dann ist die wirkende Ursache des Gasthauses die Arbeit der Maurer, die es gebaut haben, während seine Zweckursache die Löschung unseres Durstes ist. Die Frage »Warum steht hier ein Gasthaus?« könnte demnach auf zweierlei Art richtig beantwortet werden: »Weil es jemand hierhergebaut hat« oder »Weil hier viele durstige Wanderer vorbeikommen«. Das eine ist die Erklärung durch die »wirkende«, das andere durch die »Zweckursache«. Wo es sich um menschliche Angelegenheiten handelt, ist oft die Erklärung durch die »Zweckursache« am Platze, weil menschliche Handlungen ja einen Zweck haben. Wo es sich aber um die leblose Natur dreht, konnte man bisher mit wissenschaftlichen Mitteln nur »wirkende« Ursachen entdecken, und der Versuch, Naturerscheinungen durch »Zweckursachen« zu erklären, hat noch immer zu Scheinwissenschaft geführt. Nach allem, was wir wissen, kann Naturerscheinungen zwar ein Zweck zugrundeliegen; wenn dem aber so ist, so konnte man doch bisher keine Spur davon entdecken, und alle bekannten wissenschaftlichen Gesetze haben nur mit »wirkenden« Ursachen zu tun. In dieser Hinsicht hat Aristoteles die Welt irregeführt, und sie fand sich erst zur Zeit Galileis wieder auf den rechten Weg zurück.
    Im siebzehnten Jahrhundert führten besonders Galilei, Descartes, Newton und Leibniz einen Fortschritt in unserem Verständnis der Natur herbei, der plötzlicher und überraschender kam als jeder andere in der Geschichte, ausgenommen der der frühen Griechen. Wohl besaßen einige der Theorien, mit denen die mathematische Physik jener Zeit arbeitete, nicht jene unbedingte Gültigkeit, die man ihnen damals beimaß. Wohl erfordern die neueren Fortschritte der Physik oft neue Arbeitshypothesen, die von denen des siebzehnten Jahrhunderts gänzlich verschieden sind. Diese lieferten gewiss nicht den Schlüssel zu allen Geheimnissen der Natur, wohl aber zu sehr vielen. Die moderne

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