Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
das, was sie immer wieder sagen hört, statt an das, wofür Vernunftgründe sprechen. Für all dies kann man die Lehrer nicht verantwortlich machen. Sie sind es ja, die die Bedürfnisse der Jugend am besten kennen. Ihnen ist sie im täglichen Umgang ans Herz gewachsen. Aber nicht sie entscheiden über den Lehrplan oder die Unterrichtsmethoden. Der Lehrberuf muss viel mehr Freiheit haben, mehr Gelegenheit zur Selbstbestimmung, größere Unabhängigkeit von den störenden Eingriffen der Bürokraten und Fanatiker. Niemand wäre heute mehr damit einverstanden, die Ärzte der Kontrolle durch nichtmedizinische Behörden in der Behandlung ihrer Patienten zu unterwerfen, ausgenommen natürlich dann, wenn sie sich gegen den Zweck der Medizin, den Patienten zu heilen, strafrechtlich vergehen. Der Lehrer ist auch in gewissem Sinne ein Arzt, der seinen Patienten von seinen geistigen Kinderkrankheiten heilen soll; ihm aber ist es verwehrt, gestützt auf seine Erfahrung die geeignete Behandlungsmethode selbst zu bestimmen. Einige große historische Universitäten haben sich auf Grund ihres Ansehens praktisch das Selbstbestimmungsrecht gesichert; allein die überwältigende Mehrheit der Bildungsinstitute wird behindert und überwacht von Leuten, die von der Arbeit, in die sie sich einmischen, nichts verstehen. Das einzige Mittel, dem Totalitarismus in unserer hochorganisierten Welt vorzubeugen, ist die Verleihung einer gewissen Unabhängigkeit an Körperschaften, die gemeinnützige Arbeit leisten; unter diesen Körperschaften wieder gebührt den Lehrern ein Ehrenplatz.
Der Lehrer kann, wie der Künstler, der Philosoph und der Gelehrte, seine Aufgabe nur dann richtig erfüllen, wenn er sich als freier Mensch fühlen kann, einem inneren schöpferischen Drang folgend, nicht beherrscht und gehemmt von einer äußeren Autorität. In der Welt von heute ist für die freie Persönlichkeit kaum mehr Raum. Sie kann sich noch an der Spitze einer totalitären Diktatur oder als Industriemagnat in einem plutokratischen Unternehmerstaat erhalten, aber im Reiche des Geistes wird es immer schwerer, seine Unabhängigkeit von den großen organisierten Kräften zu bewahren, die über die materielle Existenz von Männern und Frauen entscheiden. Soll die Welt des Gewinns, den sie ihren größten Geistern zu verdanken hat, nicht verlustig gehen, so wird sie Mittel und Wege finden müssen, ihnen trotz aller Organisation Spielraum und Freiheit zu gewähren. Das erfordert von Seiten der Machthaber bewusste Zurückhaltung und die Einsicht, dass es Menschen gibt, die eben freie Bahn haben müssen. Das war die Haltung, die die Renaissancepäpste den Künstlern der Renaissance gegenüber einnahmen; allein den heutigen Machthabern fällt die Achtung vor außergewöhnlichen Geistesgaben offenbar schwerer. Die rauhe Luft unserer Zeit legt sich wie Reif auf die schöne Blume der Kultur. Der kleine Mann hat Angst und will daher Freiheiten, deren Notwendigkeit er nicht einsieht, nicht dulden. Vielleicht müssen wir auf ruhigere Zeiten warten, bis die Zivilisation den Parteigeist wieder überwinden kann. Einstweilen ist es wichtig, dass wenigstens Einige das Wissen um die Grenzen der Organisation bewahren. Jedes System muss Auswege und Ausnahmen zulassen, denn tut es das nicht, so wird es schließlich alles Beste im Menschen ertöten.
IDEEN, DIE DER MENSCHHEIT GENÜTZT HABEN
B evor wir diesen Gegenstand erörtern, müssen wir uns darüber klar werden, was wir unter einem Nutzen für die Menschheit verstehen. Nützt es der Menschheit, wenn sie zahlreicher, weniger dem Tier ähnlich, oder glücklicher wird? Oder wenn ihre Vergnügungen mannigfacher werden, ihr Wissen umfangreicher, ihr Verhältnis zueinander sich bessert? Alles dies trägt meines Erachtens, wie ich jetzt ausführen will, zum Nutzen der Menschheit bei.
Das Gebiet, auf dem Ideen dem Menschen zunächst ganz unzweifelhaft genützt haben, ist seine zahlenmäßige Vermehrung. Es muss einmal eine Zeit gegeben haben, da der homo sapiens eine äußerst seltene Spezies darstellte, in steter Gefahr und Angst vor wilden Tieren kümmerlich in Dschungeln und Höhlen dahinvegetierte und sich mit Mühe seine Nahrung verschaffen konnte. Zu dieser Zeit hatte der biologische Vorteil seines größeren Verstandes, der mit der Weitergabe von Generation zu Generation noch zunahm, die Nachteile seiner langen Kindheit, seiner geringeren Beweglichkeit im Vergleich zu den Affen und seiner spärlichen Behaarung, die
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