Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
solchen Glauben wird das Weiterleben auf unserem politisch gespaltenen aber technisch geeinten Planeten kaum möglich sein.
PHILOSOPHIE FÜR LAIEN
S eit es zivilisierte Gemeinschaften gibt, steht die Welt zwei verschiedenen Problemen gegenüber. Einerseits galt es, sich die Naturkräfte dienstbar zu machen, sich das Wissen und die Geschicklichkeit anzueignen, die erforderlich sind, Werkzeuge und Waffen herzustellen und die Natur bei der Hervorbringung von Nutztieren und Nutzpflanzen zu unterstützen. Dies Problem ist heute Aufgabe der Wissenschaft und Technik, und die Erfahrung hat gezeigt, dass man zur Bewältigung dieser Aufgabe eine große Anzahl ziemlich einseitiger Spezialisten heranbilden muss.
Es gibt aber ein zweites Problem, das nicht so klar umrissen ist und von gewissen Leuten irrigerweise als unerheblich betrachtet wird, nämlich die Frage, wie wir unsere Herrschaft über die Naturkräfte am nutzbringendsten anwenden sollen. Darunter fallen so brennende Streitfragen wie Demokratie oder Diktatur, Kapitalismus oder Sozialismus, Weltstaat oder Weltanarchie, freies Denken oder autoritäres Dogma. Auf diese Fragen kann aus den Laboratorien keine gültige Antwort kommen. Der Wissenszweig, der zu ihrer Lösung am meisten beitragen kann, ist eine umfassende Gesamtüberschau über das menschliche Leben in Vergangenheit und Gegenwart, und eine Einsicht in die tieferen Ursachen von Glück oder Unglück, wie sie die Geschichte zeigt. Man wird dann finden, dass unsere gesteigerten Fertigkeiten von selbst in keiner Weise Glück oder Wohlbefinden der Menschheit gesteigert haben. Als man zum ersten Mal den Boden bebauen lernte, nützte man dies Wissen zur Einführung eines grausamen Kults mit Menschenopfern.
Die Menschen, die als erste das Pferd zähmten, verwendeten es zur Ausplünderung und Versklavung friedliebender Völker. Als die Industrielle Revolution noch in den Kinderschuhen steckte, zeitigte die Erfindung der maschinellen Erzeugung von Baumwollwaren schreckliche Ergebnisse: Jeffersons Bewegung zur Sklavenbefreiung in Amerika, die unmittelbar vor dem Sieg stand, brach zusammen; in England nahm die Kinderarbeit entsetzlich grausame Formen an; in Afrika förderte man den brutalen Imperialismus, in der Hoffnung, die Schwarzen zum Tragen von Baumwollkleidung zu bewegen. In unserer eigenen Zeit hat eine Verbindung wissenschaftlichen Genies und technischer Fertigkeit die Atombombe geschaffen; nun wir sie aber haben, wissen wir mit ihr nichts anzufangen. Diese Beispiele aus ganz verschiedenen Geschichtsabschnitten beweisen, dass uns mehr als nur technische Fertigkeit Not tut; etwas, das man vielleicht »Weisheit« nennen darf. Sie muss, wenn sie überhaupt erlernbar ist, auf anderen Wegen erlernt werden als durch technisches Studium. Und sie ist heute nötiger denn je zuvor, weil bei dem atemberaubenden Fortschritt der Technik unsere hergebrachte Denk-und Handlungsweise weniger am Platz ist als jemals in der Geschichte.
»Philosophie« heißt »Liebe zur Weisheit«, und Philosophie in diesem Sinne müssen wir uns aneignen, sollen nicht die neuen, von den Technikern entfesselten und gewöhnlichen Sterblichen zur Nutzung und Handhabung überantworteten Kräfte die Menschheit in eine entsetzliche Katastrophe stürzen. Aber die Philosophie, die einen Teil der Allgemeinbildung ausmachen sollte, ist nicht identisch mit der der Philosophen vom Fach. Nicht nur in der Philosophie, sondern auf allen akademischen Wissensgebieten unterscheidet man zwischen kulturell Wertvollem und reinem Fachwissen. Historiker mögen den Ausgang von Sennacheribs erfolgloser Expedition 689 v. Chr. diskutieren; die Nichthistoriker aber brauchen den Unterschied zwischen dieser und seinem erfolgreichen Zug drei Jahre früher nicht zu kennen. Gräzisten vom Fach mögen eine umstrittene Lesart in einem Aeschylusdrama mit Gewinn erörtern, aber solche Dinge sind nicht für einen, der neben einem arbeitsreichen Alltag zu einem gewissen Verständnis der Errungenschaften der Griechen gelangen will. In ähnlicher Weise müssen die Männer, die ihr Leben der Philosophie widmen, sich mit Fragen auseinandersetzen, die der gebildete Laie mit Recht ignoriert, wie z. B. den Unterschieden in der Universalientheorie bei Thomas v. Aquin und Duns Scotus, oder den Merkmalen, die eine Sprache besitzen muss, soll sie, ohne sinnlos zu werden, ein Ausdrucksmittel über sich selbst sein. Solche Fragen gehören zur rein fachlichen Seite der Philosophie, und
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