Unscheinbar
zuvor.
Alice war schneller gewesen. Sie wartete bereits im Wohnzimmer, als Ben und Emma eintraten. Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte Alice die beiden Neuankömmlinge.
„Wo habt ihr euch denn nun schon wieder gewälzt?“ Die Besorgnis schwang immer noch in der Stimme mit, aber inzwischen überwog die Resignation. Fast, als wäre sie sich die schmutzigen Auftritte allmählich gewohnt.
Emma und Ben hatten kurzzeitig vergessen, wie sie aussahen.
„Ah, richtig. Alice, könnte ich deine Waschmaschine und Dusche erneut kurz benutzen?“ Emma setzte zu einem mitleiderregenden Augenaufschlag an. Alice winkte nur ab.
„Verschwinde. Du weisst inzwischen ja, wo du alles findest. Und nimm Ben mit. So sitzt mir keiner auf mein Sofa.“
Strang 1 / Kapitel 35
Eine halbe Stunde später sassen alle drei im Wohnzimmer versammelt. Ben hatte im grossen Sessel Platz genommen. Emma hatte sich in der linken Ecke des ausladenden Sofas eingerichtet, Alice in der rechten. Auf dem tiefen Tisch vor dem Sofa lagen ein Laptop, Bücher, lose Blätter und einige Stifte verteilt.
„Okay. Wo fangen wir an?“ Erwartungsvoll schaute Alice in die Runde.
Emma musste sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte. Wie weiter?
Sie musste ihre Gedanken ordnen. Warum waren sie alle hier?
Wegen ihrer Sagentheorie.
Was war nun also der nächste Schritt?
Die Morde mit den Sagen zusammenführen.
Das könnte gehen. „Ich schlage vor, wir fassen zuerst zusammen, wer wie umgekommen ist.“
„Einverstanden. Ich versuche mich weitestgehend zu erinnern. Du hast mir aber leider noch nicht mitgeteilt, weshalb wir das tun und weshalb du meine Sagenbücher brauchst“, warf Alice ein.
„Stimmt. Entschuldige. Ich verfolge die Theorie, dass die Morde nach dem Muster von Schweizer Sagen begangen wurden. In manchen Sagen und überlieferten Geschichten geht es doch darum, dass der Tod selbst oder das, was nach dem Tod folgte, eine Strafe war für etwas, das zu Lebzeiten getan wurde oder geschehen ist. In etwa die Bestrafung für eine Sünde.“
Alice dachte kurz darüber nach. „Richtig."
„Über die Todesfälle der Familie Reich ist uns durch unsere Gruselgeschichten und eure Erzählungen auch schon einiges bekannt", führte Ben aus. Und etwas behutsamer fügte er an: „Ausserdem kamen uns die Fallakten von Jens zu Hilfe.“ Er hätte ihr diese Information sicher auch schonender beibringen können, aber wozu? Die Tatsache blieb so oder so ein und dieselbe.
Alice geriet leicht aus dem Konzept. „Heisst das, er hat die Akten behalten? Und sie euch gezeigt?"
Ben und Emma tauschten einen vielsagenden Blick. "Nun, nein. Er war es nicht, der uns ins Vertrauen zog. Genaugenommen weiss er nicht einmal, dass wir die Akten gesehen haben.“ Ben beobachtete die Reaktion seiner Mutter mit gemischten Gefühlen.
Alice liess das Gesagte auf sich wirken. "So ist das also. Eigentlich dürfte es mich nicht überraschen. Einen solchen Fall wirft man kaum einfach weg wie ein gebrauchtes Taschentuch. Gut. Weiter. Was haben die Fallakten mit den Sagen zu tun?“
„Emma stiess da auf etwas. Ich schlage aber vor, wir beginnen damit, wie die Menschen umgekommen sind. Ich platziere meine neusten Informationen, wenn sie gefragt sind. Okay?“
„In Ordnung.“ Emma nickte einmal. „Dann also los. Chronologisch macht am meisten Sinn, oder?“
„Sicher. Hier.“ Alice reichte Emma ein Blatt Papier und einen Stift. „Lass mich kurz überlegen. Zuerst erwischte es, so glaube ich, Bernard und Käthe.“
Emma begann zu schreiben.
„Nein. Warte. Der andere Onkel. Dieser Geizhals. Wie hiess der nochmal? Peter. Er hiess Peter.“
Emma strich die Namen Bernard und Käthe durch und begann mit Peter. „Peter kenne ich. Das war die Geschichte, die Martin mir erzählte. Er starb an einem Stromschlag, nicht wahr?“
„Genau“, bestätigte Alice. „Das war gruselig. Bei ihm fand man einen Totenschädel, gehäutet und blutverschmiert. Der Schädel soll der Kopf eines verschwundenen Millionärs gewesen sein. Der Rest des Körpers hing in der Räucherkammer. Eklig.“
Emma horchte auf. Daher also der Schädel im Tunnel.
„Und genau solche Dinge wie dieser Schädel wurden zu meiner Forschungsaufgabe“, schaltete Ben sich ein. „Ich musste nachsehen, ob bei den Leichen oder an den Orten, an denen die Menschen umgekommen sind, seltsame oder besser unpassende Gegenstände gefunden wurden.“
Interessiert schaute Alice zu Ben. „Wie meinst du
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