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Unscheinbar

Unscheinbar

Titel: Unscheinbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Berger
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wanderten Alice Augen zu Ben. „Mir kam da etwas in den Sinn, aber ich muss noch darüber nachdenken. Ihr werdet es natürlich als erste erfahren.“
    Das war fair.
    „Gut. Ich hatte da ebenfalls so einen Gedanken.“ Emma war sich unschlüssig. Sie wollte niemanden vor den Kopf stossen. Vor allem nicht Alice. Aber hatte sie denn eine andere Wahl? Nein. Es war nicht die Zeit, auf Gefühle Rücksicht zu nehmen. „Zwar sagt man, dass alle in der Felslawine umkamen. Aber ist es nicht so, dass Martin zu dem Zeitpunkt nicht anwesend war?“
    „Das ist allerdings wahr.“ Alice schien gewillt, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, sondern Emma erst zu Ende sprechen zu lassen.
    „Er scheint doch immer sehr präsent gewesen zu sein. Es wirkt, als wäre er immer mehr im Vordergrund gestanden als die anderen. Nicht negativ. Im Gegenteil. Oft war er der gute Samariter. Auffällig oft, wenn ihr versteht.“
    „Nein, das verstehe ich nicht. Er war ein wunderbarer Mensch. Irgendwelche Andeutungen, die das anzweifeln, hat er nicht verdient.“
    „Mama, lass das. Ich bin mir nicht sicher, ob Martin so präsent ist, weil wir das Meiste über ihn von dir wissen oder ob es andere Gründe gibt, weshalb sein Name öfter auftaucht, als die der anderen. Du bist ihm ja unverhohlen nach wie vor sehr zugetan. Keiner will deine Gefühle verletzen oder seine Taten schmälern. Aber in Betracht ziehen müssen wir alles. Wir haben unter den gegebenen Umständen keine Zeit zimperlich zu sein. Und du musst zugeben, Emma hat nicht ganz unrecht. Wer abgrundtief schlecht ist, könnte sich zur Tarnung auffällig gut geben. Warum fehlte er, als zum finalen Schlag angesetzt wurde? Warum war er nicht im Haus wie alle anderen? Was hat er getan? Hat er etwas geahnt?“
    Oder war er es, der die Lawine ausgelöst hat?
    Doch diese Frage blieb unausgesprochen in der Luft hängen.
    „Und wenn er so gut war, dann hätte er doch eigentlich überleben müssen. Denn wenn wir richtig liegen, wurden die Sünder der Familie bestraft“, ergänzte Emma.
    „Irgendwo hat jeder Dreck am Stecken“, Alice war zwar nicht glücklich über die Richtung, in die das Gespräch führte, nahm den Faden aber auf.
    „Wird so sein. Er starb dann ja auch“, stellte Ben fest.
    „Genau. Tags darauf“, vervollständigte Alice das Bild. Sie sah zu Ben. Der schien in Gedanken aber bereits weiter.
    „Stimmt.“ Die Stirn in Falten gelegt, erwiderte er den Blick seiner Mutter. „Woran starb er noch gleich?“
    „Autounfall.“
    „Noch einen?“ Das kam von Emma.
    „Dachte ich eben auch.“ Ben stand auf. Er begann im Wohnzimmer auf und ab zu wandern. „Das macht doch keinen Sinn. Nach allem, was wir wissen, ist dieser Mörder äusserst überlegt und ordentlich.“
    Emma tippte mit dem Stift nachdenklich gegen ihre Lippen. „Penibel. Detailversessen. Er plant alles bis ins Letzte. Würde es nicht so abartig klingen, würde ich sagen, hinter seiner Planung steckt viel Liebe.“
    Mit erhobenem Zeigefinger deutete Ben auf Emma. Er setzte ihren Gedankengang fort und sagte: „Er zelebriert das, was er tut, richtiggehend. Würde er da ein ähnliches Szenario, wie er es schon hatte, erneut verwenden?“
    „Vielleicht“, schaltete Alice sich ein. „Ihr vergesst etwas Wesentliches.“
    Ben und Emma schwiegen gespannt.
    „Martin war nicht der einzige, der in dem Auto verbrannte.“ Alice verstummte. Ihr war anzusehen, dass ihr das, was sie zu sagen hatte, nicht leicht fiel.
    „Alice?“ Emma liess sich nichts von ihrer Anspannung anmerken. „Wer war da noch?“, fragte sie mit weicher Stimme.
    „Ein Kind.“
    Ein Kind? Wessen Kind?
    Bevor Emma diese Frage äussern konnte, setzte Ben zum Sprechen an.
    „Da war noch ein Kind? Wie pervers ist dieser Kerl eigentlich? Vielleicht war das der Grund, weshalb Martin auf solch plumpe Art zur Strecke gebracht wurde. Entschuldige meine Wortwahl, Mama.“ Ben legte Alice kurz die Hand auf die Schulter. Dann spann er seine Gedanken weiter. „Ein Kind gilt schliesslich als rein und sündenfrei. Da bekam der Mörder womöglich doch noch Skrupel. Das Kind wog eventuell allfällige Sünden von Martin auf. Sterben sollte er aber dennoch, sonst wäre ja der Plan nicht vollständig. Vielleicht liess unser Massenmörder bei der Beseitigung von Martin deshalb die Symbolik, die jede Tat mit sich führt, weg.“
    „Des Kindes wegen?“, fragte Alice.
    Ben nickte.
    „Oder er geriet unter Druck“, warf Emma ein. „Ein Unfall, das Auto brennt aus.

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