Unscheinbar
Lächeln. „So sieht es aus. Und was führt dich in diese abgelegene Gegend?“
„Ein Auftrag.“
Alice gab deutlich zu verstehen, dass diese Information zu dürftig war.
„Ich bin Immobilienmaklerin und man hat mir den Auftrag gegeben, mir eine Immobilie anzusehen.“
„Oh, das klingt spannend! Um welches Haus handelt es sich denn? Oder darfst du mir das nicht verraten?“
„Im Gegenteil, ich bin erstaunt, dass du es noch nicht weisst, wo mein Unterfangen doch schon das ganze Dorf in Aufregung versetzt hat.“
„Ach, weisst du, es gibt einen Grund, weshalb ich hier draussen lebe und mich selten im Dorf blicken lasse. Es sind sehr liebe Menschen, aber sie sind auch sehr eigen. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, mich überall mit hineinziehen zu lassen. Also, erzähl. Welche Immobilie?“
„Die der Reichs.“
In Alices Gesicht fand eine faszinierende Veränderung statt. Zuerst wurde es mit einem Schlag aschfahl, dann röteten sich ihre Wangen und auf einmal begann sie laut herauszulachen. „Oh Mädchen! Kein Wunder sind alle in Aufruhr! Seit so vielen Jahren versuchen die Leute hier angestrengt zu vergessen! Und plötzlich holt sie die Vergangenheit wieder ein. Das gefällt sicher nicht jedem.“
„Hab ich auch schon gehört.“
Alice wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Aber meine Liebe, von dem Haus ist doch nichts übrig. Wer sollte daran interessiert sein?“
„Nun, mein Auftraggeber meint, es gehöre seiner Familie.“
Alice verschluckte sich am Tee. Sie musste heftig husten. Ihre Stimme war ganz rau, als sie langsam ihre nächsten Worte formulierte. „Das ist absolut unmöglich. Wie heisst dein Auftraggeber?“
Emma fand das alles auf einmal hoch interessant. „Martin.“
„Mein Gott. Weiss jemand anderes hier davon, wer dich geschickt haben will?“
„Nicht das ich wüsste.“
„Gut. Denn die würden an Auferstehung glauben. Ich erklär dir jetzt mal was. Diese Familie gibt es nicht mehr. Das kann ich dir mit absoluter Bestimmtheit versichern. Denn ich kannte sie alle. Sie waren die herzlichsten Menschen, die ich je getroffen hatte. Allesamt. Die Eltern wie auch die drei Söhne. Unter anderem Martin. Ich habe lange Zeit für sie gearbeitet, bis…“, Alice brach ab. In ihrem Gesicht spiegelte sich Schmerz.
Die Erinnerung tat immer noch weh.
Sie räusperte sich. „Bis ich schwanger wurde.“
„Schwanger? Mit Ben?“
„So ist es. Sie kümmerten sich auch nach meiner Kündigung noch rührend um mich. Dabei hatten sie da schon genug mit sich selbst zu tun.“
„Was meinst du damit?“
Draussen war es mittlerweile stockfinster geworden. Der hellbraune Täfer harmonierte mit der Beleuchtung der Stehlampe und tauchte alles in ein gemütliches, warmes Licht.
Emma hätte sich gerne von der friedlichen Atmosphäre einlullen lassen. Aber unter der Idylle lag eine Bedrohung. Emma spürte sie deutlich. So deutlich, dass sich die feinen Härchen an ihren Armen aufstellten.
Alice beugte sich leicht nach vorne. „Es begann bereits, als ich noch dort war. Nur tat man anfangs alles als schreckliche Zufälle ab. Daran glaubten die Menschen im Dorf aber bald nicht mehr.“
„Woran denn dann?“
„Sie sprachen von einem Fluch.“
„Ein Fluch? Warum?“
„Ein Familienmitglied nach dem anderen starb. Zuerst wurde Peter zum Mörder. Man sagte ihm nach, er hätte einen verirrten Wanderer seines Vermögens wegen umgebracht, den Kopf abgetrennt, ihn gehäutet und den restlichen Körper ins Räucherhaus gehängt. Dann starb er selbst durch einen Stromschlag. Miriam erhängte sich aus Verzweiflung über Rubens Ehebruch, da tauchte auch Ruben nie wieder auf und seine Alphütte brannte bis auf die Grundmauern nieder. In der gleichen Nacht explodierte auch die Schnapsbrennerei auf dem Grundstück des Reichhofs. Ein Wunder, dass dabei niemand umkam. Als nächstes waren Bernard und Käthe dran. Autounfall. Und so ging‘s weiter. Der Kreis wurde immer enger, der Verwandtschaftsgrad immer näher, bis schlussendlich alle tot waren. Die letzten hat sich der Berg geholt. Zusammen mit dem Haus.“
Emma erschauerte. Trotz dem heissen Tee in den Händen und dem Kachelofen im Rücken, fröstelte sie. „Das ist entsetzlich.“
„Und ob. Alles geschah innert eineinhalb Jahren. Es war eine aufreibende Zeit, für alle hier. Aber nachdem die Reichs nicht mehr waren, kehrte wieder Ruhe ein. Und die wollte niemand mehr stören. Natürlich konnte man nie ganz verheimlichen, was war, aber man
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