Unscheinbar
frage ich dich: Wirst du mir vertrauen?“
Er sah so entschlossen aus und bewegte sich so sicher auf diesem Haufen Natur, dass Emma gar nicht anders konnte. Sie riss sich zusammen, sammelte all ihren Mut und begann erneut die Gerölllawine zu erklimmen.
Diesmal mit Erfolg.
Mit Ach und Krach kamen sie auf der anderen Seite an.
„Mein Gott. Das werde ich nie, nie wieder tun!“
„Was? Zuerst vor einer Lawine zu fliehen und dann darüber zu klettern?“ Ben befreite Emma und sich selbst vom Seil und rollte es über Hand und Ellbogen auf. Dann warf er es über die Schulter. „Hier lang.“
Ben folgte nicht wie von Emma erwartet dem Strassenverlauf. Er steuerte auf einen schmalen Wanderweg zu, der einige Meter weiter unten von der Strasse weg und auf direktem Weg in die Ebene führte. Der Pfad war auch entsprechend steil und holprig.
„Das ist nicht dein Ernst! Können wir nicht die Strasse nehmen?“
„Das dauert viel länger. Ich weiss ja nicht, wie es dir geht, aber ich bin langsam am Ende mit meinen Kräften.“
„Ja, aber wäre es da nicht sinnvoll, den einfacheren Weg zu wählen und sich die Kräfte so einzuteilen? Bei diesem Abstieg ist meine Energie in der Hälfte verpufft!“
„Kein Problem. Dann nimmst du die Strasse. Ich geh dann schon mal schlafen. Du kannst morgen“, Ben warf einen Blick auf seine silberne Armbanduhr, „nein, in ein paar Stunden anrufen. Vielleicht kann ich ein Auto auftreiben. Dann komm ich dich eventuell abholen.“
„Zu freundlich. Ein entzückendes Angebot.“ Emma drängte Ben kurzerhand zur Seite und trat auf den erdigen Weg. Grinsend schloss sich Ben ihr an und gemeinsam machte sie sich daran, querfeldein ins Dorf zu wandern.
Immer gefolgt von ihrem unbekannten Schatten.
Er musste sich besser beherrschen. Wieder hätte er beinahe laut herausgelacht. Zum Glück konnte er den Drang gerade noch unterdrücken. Das kleine Kichern, das ihm entwischt war, hatte kaum jemand hören können.
Aber es war auch zu lustig gewesen. Zuerst musste er sie aus dem Auto zerren, so starr war sie vor Schreck, dann brüllte sie ihn an wie eine Löwin. Und das Besteigen der Lawine erst! Sie stellte sich derart dämlich an, dass er sich beinahe Sorgen gemacht hätte, sie würde sich selbst etwas antun und ihm damit den ganzen Spass verderben.
Er war beinahe von derselben Freude erfüllt, wie damals. Aber es war nicht so befriedigend. Er wusste, dass er es nicht mehr lange durchhalten würde.
Eine Katze konnte auch nicht ewig mit ihren Mäusen spielen. Irgendwann kam der Moment.
Immer.
Der Augenblick, in dem die Katze die Maus tötete. Das lag in der Natur der Sache.
Und dieser Augenblick rückte immer näher.
Strang 1 / Kapitel 16
Der Tag begann, wie Emmas Laune war. Trüb.
Es regnete in Strömen. Emma versuchte sich zu drehen und ihre steifen Glieder zu strecken. Aber alles, was sie tat, schmerzte fürchterlich. Zu den Schmerzen des Unfalls kamen auch noch die vom Klettern und Wandern. Sie wollte nach Hause. Aber mit ihrem Auto. Natürlich ging das nicht. Und Walter musste sie zudem noch erklären, warum nun auch er vorerst ein Auto weniger hatte. Er würde sich hüten, jemals wieder einem Fremden einfach so ein Auto zu leihen.
Irgendwie schaffte es Emma aus dem Bett und vor den Spiegel. Angeekelt musterte sie das verquollene Gesicht, das ihr entgegenstarrte. Sie konnte kaum glauben, dass sie selbst das sein sollte. So konnte sie sich keinesfalls unter Menschen wagen. Soviel Eitelkeit musste sein.
Ihr Regenerationsprogramm begann mit einem ausgiebigen Bad inklusive Gesichtsmaske und Haarkur. Danach fühlte sie sich schon beinahe wieder menschlich. Ein wenig Schminke und der Haarföhn taten den Rest. Der prüfende Blick in den Spiegel liess sie zufrieden aufatmen. Emma prüfte ihren Magen auf ein Hungergefühl, konnte allerdings nichts dergleichen entdecken. Aber Kaffee musste her.
Auf den Stammtisch hatte sie heute keine Lust. Sie brauchte Ruhe. Ruhe um sich für das anstehende Telefongespräch zu wappnen und um es dann auch zu führen. Also wollte sie nur ins Restaurant um nachzufragen, ob es eine Möglichkeit gab, den Kaffee mitzunehmen.
Frisch motiviert trabte sie die steile Treppe hinunter und schlüpfte von Innen hinter der Theke hindurch in das Restaurant. Sie entdeckte Liss nicht sofort. Dafür einen anderen Zeitgenossen. Mit langem, grau-weissen Bart sass er alleine am Stammtisch. Die Kappe vermochte das zottige Haupthaar nicht annährend zu
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