Unscheinbar
aufs Neue zurück.“
„Ein Geist?“
„Ein Geist.“ Die Alte hatte die Stimme immer weiter gedämpft, bis sie nur noch flüsterte. Den leisen Singsang behielt sie aber bei.
Emma fröstelte.
Auch die Kleine erschauderte. Doch dann begann sie zu Kichern. Schliesslich wurde sie wieder ernst. Sie versank ins Grübeln. „Aber Omi, kann man diese Gespenster denn nicht befreien?“
„Befreien ist schwer. Aber man kann sie wegsperren.“
„Wie?“
„Ist dir schon aufgefallen, dass es im Haus von Omi und Opi stellenweise Löcher in den Balken hat?“
Die Kleine dachte kurz nach. Dann nickte sie.
„Solche Löcher hat man früher gebohrt, um die Geister darin einzusperren. Manchmal legte man noch etwas Weihwasser oder Ähnliches mit dazu, dann schlug man einen sogenannten Bannzapfen in das Loch und gut war’s.“
Was die beiden weiter besprachen, hörte Emma nicht mehr. Ihre Gedanken schweiften ab.
Ein Bannzapfen? Ein Balken? Wo hatte sie so etwas schon einmal gesehen?
Emma bekam keine Chance das herauszufinden.
Ein kräftiger Ruck schüttelte den Zug. Bremsen kreischten. Das tonnenschwere Fahrzeug schob sich aber weiter vorwärts. Beissender Geruch verbreitete sich im Wagon. Auf einmal wurde es draussen dunkel. Das Tageslicht verschwand. Nicht etwa, weil die Nacht hereinbrach. Sie rutschten geradewegs in den schmalen Tunnel. Das Licht begann zu flackern. Und erlosch schliesslich ganz.
Das kleine Mädchen schrie auf.
Er nutzte die Gunst des Augenblicks. Behende huschte er aus der zweiten Führerkabine am anderen Ende des Zuges. Ihm blieb nur wenig Zeit. Noch bevor der Zug zum Stillstand kam, musste er beim Lokführer eintreffen. Blind eilte er durch den finsteren Wagon. Mit dem Fuss stiess er an etwas weiches, das davon rutschte. Er ignorierte es.
Flink öffnete er die Tür zur Führerkabine. Er trat hinter den Lokführer, schlang ihm den Arm um den Hals. Gleichzeitig zog er eine Spritze aus seiner Jackentasche und steckte die dünne Nadel in den Hals des überrumpelten Mannes. Die Flüssigkeit entwich aus der Spritze, direkt in dessen Halsschlagader. Ehe der Zugführer begriff, was geschah, kippte er auch schon vornüber.
Alles spielte sich innert weniger Sekunden ab. Im Blindflug. Aber das machte nichts. Dafür brauchte er kein Licht. Er zog dem Bewusstlosen die Spritze aus dem Hals und packte sie zurück in seine Jacke.
Dann holte er eine grosse Taschenlampe hervor und wartete.
Plötzlich stand der Zug still. Es war stockfinster. Emma konnte die Hand vor Augen nicht sehen.
Blind griff sie nach ihrer Handtasche, die sie zu ihren Füssen platziert hatte. Die Tasche war aber nicht mehr dort.
Hektisch tastete Emma ihre nähere Umgebung ab, bis sie das glatte Leder unter ihren Fingern spürte. Sie fasste in die Innentasche, zog ihr Mobiltelefon heraus und schaltete das Licht des Fotoapparats ein. Anschliessend stand sie auf und ging sofort zu dem kleinen Mädchen.
„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“
Die alte Dame hielt die Kleine fest im Arm. „Ja. Danke. Alles gut. Sie hat sich nur erschrocken.“
„Meine Damen und Herren, wie Sie unschwer erkennen können, hat unser Zug eine Panne.“ Der Lichtstrahl einer Taschenlampe traf direkt auf Emmas Gesicht. Geblendet musste sie sich abwenden. Der Zugfahrer fuhr fort: „Die Technik hat sich gerade verabschiedet. Unser Standort ist denkbar ungünstig. Wir werden also den Zug hinten verlassen und zu Fuss aus dem Tunnel gehen.“
Emma beschattete ihr Gesicht mit der Hand. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie gegen den Lichtstrahl anzukommen. Aber sie erkannte nichts. Der Zugführer blieb im Dunkeln.
„Ich möchte, dass sämtliche Fahrgäste voraus gehen, damit ich sicher sein kann, dass niemand zurückgelassen wird. Die junge Dame mit ihrer Handy-Taschenlampe geht als Erste. Sie kann den Weg ausleuchten.“
Das war dann wohl das Signal. Emma richtete sich auf. Da die Omi sich nicht aus der Umklammerung ihres Grosskindes befreien konnte, half Emma der alten Dame auf die Füsse.
„Geht’s?“
„Es wäre wohl einfacher, wenn die junge Lady hier auf ihre eigenen Füsse stehen würde. Aber es geht schon.“ Sie strich der Kleinen liebevoll übers Haar. „Tausende Gespenstergeschichten vermochten dich nicht zu erschrecken, aber ein Notstopp von einem Zug bringt dich aus der Fassung. Du bist mir eine Heldin.“
„Jeder Held hat seinen Schwachpunkt“, meinte Emma lächelnd. „Indiana Jones hat die Schlangen, Superman das Kriptonit
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