Unscheinbar
einen ganzen Regen.
Die Starkstromleitung stürzte sprühend von oben hinunter. Direkt auf die kleine Gruppe zu.
„Passt auf!“ Emma reagierte blitzschnell. Sie schoss herum, packte das kleine Mädchen unter den Arm und riss die alte Frau mit sich. Sie sprang über die Schiene und presste sich an die Felswand.
Sie rief noch: „Weg von den Schienen!“ Als die Leitung auch schon an ihnen vorbeisauste. Zischend traf sie auf das Metall. Sofort übertrug sich die elektrische Spannung und wurde in leise surrenden Wellen durch die Schienen geleitet.
Dieser Mistkerl von Lokführer. Er kannte die Gefahr, sonst hätte er diesen dämlichen Spruch nicht losgelassen. Und er selbst? Etwas vergessen, hm? Das glaubte er doch selbst nicht.
Zwischen Schienen und Felsen war kaum Platz. Dennoch wagte es Emma nicht, ihre unbequeme Position zu verändern.
„Bei euch alles in Ordnung?“
Das Echo kam verzögert, aber es kam. Von allen Beteiligten.
Gut.
„Okay. An den Felsen entlang kommen wir nicht raus. Das ist zu eng. Wir treten jetzt auf das Holz zwischen den Schienen. Klar?“
Die Kleine unter Emmas Arm wimmerte ängstlich. „Es ist nicht mehr weit, Süsse. Wir schaffen das schon. Einfach nur das Holz berühren. Dann geschieht nichts.“
Hoffentlich. Emmas Erfahrung mit Strom beschränkte sich auf das Aufhängen von Lampen. Selbst da hatte sie ihre Bedenken. Und das war kein Starkstrom.
Vorsichtig machte Emma einen Schritt über die Schiene. Schimmerte diese etwas blau?
Emma hoffte sich das nur einzubilden.
Irgendwie hatte sie es geschafft, Omi, Enkelin und Handy zu retten. Also knipste sie das Licht wieder an. Sie leuchtete die Umgebung vor sich noch einmal kurz ab. Dann richtete sie den Strahl an die Decke, um sich den Schaden kurz anzusehen. Sie entdeckte die Stelle, an der die Leitung gebrochen war, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregte. Zwischen den Leitungen und der Decke schimmerte etwas weiss. Emma erkannte nicht, was es war. Sie kniff ihre Augen zusammen, um besser sehen zu können - und zuckte erschrocken zurück.
Aus leeren Augenhöhlen starrte er sie an. Blankweiss leuchtete das höhnische Lächeln.
Ein Totenschädel.
Dort oben, eingeklemmt zwischen surrenden Leitungen und dem nasskalten Fels.
Emma schnappte nach Luft.
"Hey! Vorsicht da vorne! Was machen Sie denn da?", hallt eine junge, weibliche Stimme durch den Tunnel. Die Frau mit dem Buch hatte sich hinter der Grossmutter eingereiht und wartete auf Emmas Signal.
Emma presste ihre Augen mehrmals fest zusammen, um das Bild loszuwerden, das sich in ihre Linsen eingebrannt zu haben scheint. Doch es wollte nicht ganz verschwinden.
Schliesslich mahnte sie sich selbst an ihren Auftrag und riss sich zusammen.
Später. Sie würde später darüber nachdenken, was sie gesehen hatte.
Entschlossen richtete sie das Licht erneut auf die Geleise vor sich und führte ihren Weg in Richtung Ausgang fort.
Die anderen folgten ihr ohne zu ahnen, was über ihnen thronte.
Gleich würde er losprusten. Das lag aber nicht drin. Der kurze Augenblick, in dem die herabstürzende Leitung den Tunnel hell beleuchtet hatte, hatte er die Gesichter sehen können. Ein herrlicher Anblick.
Diese Frau hatte Mumm. Das musste man ihr lassen. Sogar die Kleine und die Alte hatte sie noch zur Seite gerissen. Das hätte ins Auge gehen können. Aber jeder seiner Attacken barg eben ein gewisses Risiko. Er zog die Hauptfäden. Aber seine Figuren agierten selbständig. Das war auch gut so. Denn wo wäre sonst der Spass?
Von seinem Platz am hinteren Ende des Zuges starrte er in den Tunnel. Den Blick fest auf den Flecken Licht am Ende gerichtet. Er wartete. Er wartete, bis die kleine Gruppe im Licht auftauchte. Währenddessen beglückwünschte er sich innerlich.
Ein hervorragender Plan, der wieder einmal fantastisch funktioniert hatte.
Er wandte den Kopf leicht zum vorderen Führerstand des Zuges. Bisher hörte er noch nichts. Keine Sirenen, keine Motoren, keine Stimmen. Die Leitstelle müsste sich inzwischen zumindest wundern, wo der Zug blieb. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sie hier auftauchten. Vor allem, da auch der Lokführer seit geraumer Zeit nicht mehr auf die Funksprüche reagierte.
Der Ärmste. Kopfüber lag er auf seiner Konsole. Es war eine ganz schöne Herausforderung gewesen, sich rechtzeitig in der zweiten Führerkabine am anderen Ende des Zuges zu verstecken. Von dort den Zug zu manipulieren hingegen nicht mehr.
Als es im Zug dunkel
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