Unscheinbar
Gesichtszüge wurden weicher. Wenn auch nur ein bisschen.
„Emma, ich bin mit diesen Gerüchten aufgewachsen. Und zwar hier. Dieser Fluch hätte mein ganzes Leben lang Zeit gehabt zuzuschlagen. Wenn etwas es auf mich abgesehen hätte, warum erst jetzt?“
„Vielleicht, weil irgendwer gerade jetzt einen Beweis fand, wer du bist.“ Emmas Wut war mit einem Mal verraucht, weil sie endlich erkannt hatte, dass das, was sie nur als Informationssammlung betrachtet hatte, weit mehr war. Was für sie eine neue Erkenntnis war, war für Ben ein Kampf, den er seit Kindertagen führte.
Auch er schien sich ein wenig beruhigt zu haben. Ein Anflug von Trotz flackerte in seinen Augen auf. „Aber das tolle an einem Fluch ist doch, dass er keinen DNA-Test braucht, um zu wissen, wen er sich holen muss.“
Emma lenkte ein. „Stimmt.“ Und führte das Thema sogleich wieder auf dünnes Eis. „Dann ist es wohl doch kein Fluch. Sondern ein mörderischer Plan aus einem kranken Gehirn.“
Nach so langer Zeit war es offen ausgesprochen. Für einen Moment schienen beide nicht richtig zu wissen, was mit dieser Ansage anzufangen war. Also schwiegen sie. Es wirkte beinahe, als würden sie warten, bis sich die Erde auftat. Als Strafe für das gebrochene Schweigen.
Natürlich geschah nichts dergleichen.
„Und das ist alles meine Schuld, meinst du?“
„Das müsste man nun herausfinden. Irgendwie.“ Emma griff nach Bens Arm. „Hast du etwa selbst nie daran gedacht?“
Er entzog sich ihrer Berührung und fuhr sich stattdessen ungestüm durchs Haar. Die eben noch zurückgewonnene Ruhe war vorbei. „Doch. Natürlich habe ich das.“ Unruhig wandte er sich ab. Er nahm einen Schraubenschlüssel in die Hände und drehte ihn sinnlos zwischen den Fingern.
Emma beobachtete ihn. Erst wunderte sie sich. Doch dann begriff sie. Er fühlte sich hilflos. Natürlich hatte er schon daran gedacht. Und an all dem, was da draussen geschah, an all den Gefahren, die seiner Mutter, ihr oder irgendjemandem sonst auf einmal drohten vielleicht die Schuld zu tragen, war eine schwere Last.
Emma trat zu ihm. Sie nahm ihm behutsam den Schraubenschlüssel ab und legte ihn beiseite. Sie legte ihre Hand auf seine Wange und zwang ihn, sie anzusehen.
„Es tut mir leid. Ich hab’s schlicht nicht kapiert. Natürlich hast du darüber nachgedacht, ob es an dir liegen könnte, dass alles, was so lange Zeit in Ordnung schien, wieder aus den Fugen gerät. Dagegen muss doch aber irgendein Kraut gewachsen sein. Die Akten müsste man sich vielleicht noch einmal ansehen. Mit dem alten Pfarrer sprechen.“ Etwas weniger entschlossen fügte sie an: „Deine Mutter zu einer Antwort auf die Vaterfrage zwingen? Unter den neuen Gesichtspunkten wäre sie doch sicher bereit…“
Ein Ruck ging durch Bens Körper. Er stellte sich aufrecht hin. Seine Gesichtszüge waren hart. Unnachgiebig. „…oder vielleicht verschwindest du einfach. Wir werden ja sehen, ob die Katastrophen dann aufhören. Wie gesagt, ich bin hier aufgewachsen. Trotzdem passierte jahrelang überhaupt nichts. Wohingegen du kamst und die Zerstörung begann. Also wäre es doch naheliegender, wenn du einfach wieder gehst.“
Das traf. Eine Faust in den Magen hätte weniger geschmerzt. Emma regte das Kinn.
Sie würde ihre Würde wahren.
„Gut. Wenn du und all die Bewohner hier weiterhin die Augen vor der Wahrheit verschliessen wollt, bitte. Tut weiter, als wäre nichts. Ich wünsche euch viel Erfolg beim Überleben.“
Emma kehrte Ben den Rücken. Sie steuerte auf den Eingang zum Verkaufsraum zu. Warum sie nicht den direkten Weg aus der Garage nahm, wusste sie selbst nicht. Im Verkaufsraum oder besser im Türrahmen zur Garage traf sie auf Walter.
Wie lange hatte er schon dagestanden?
Egal.
Sie wusste, dass Walter ihr nachsah. Aber sie drehte sich nicht um. Schnurstracks schlug sie den Weg zurück ins Dorf ein. Sie liess sich von nichts ablenken. Sie gestattete sich nicht nachzudenken. Ohne Umwege marschierte sie ins Hotel. Entschlossen, alles, was versucht war sie anzusehen oder möglicherweise anzusprechen zu ignorieren.
Emma zog nicht einmal ihre Jacke aus. Eilig packte sie ihren Koffer. Wahllos warf sie alles hinein. Ohne Ordnung, ohne Plan. Sie zog die Zimmertür hinter sich zu. Den Schlüssel liess sie von aussen stecken. Dann verliess sie das Haus. Dass sie die Rechnung nicht bezahlt hatte, war ihr egal. Im Notfall würde sie das Geld in ein Couvert packen und hierher schicken. Aber jetzt noch
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