Unschuldig
Heimat für sie, denn seit sie mit Jonas zusammen war, wusste sie, wie sich so etwas anfühlte. Sie lebte gern in Berlin, und zwar in dem Berlin, das sie nicht in den Hackeschen Höfen, im Reichstag oder im Borchardt fand, wo man den prominenten Friseuren, Schauspielern, Politikern und Journalisten beim Essen zuschauen konnte.
Ihre Einstellung zur Hauptstadt teilte Paula mit Jonas, der besonders die Mischung aus gesellschaftlichen, politischen, religiösen und ideologischen Gruppierungen, kurz gesagt: die Offenheit der Hauptstadt schätzte. Obwohl er als Beauftragter von »Ärzte der Welt« schon viele Städte gesehen hatte und es ihm schien, als hätte er sein halbes Leben nur in Hotelzimmern oder Apartments gewohnt. Jahrelang war er wie ein Nomade durch die Welt gezogen, von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Operationssaal zu Operationssaal, von Kantine zu Kantine. Nun fühlte er sich in Berlin endlich angekommen.
Nach knapp anderthalb Kilometern nahm Paula die Ausfahrt links Richtung Invalidenstraße und war wenige Minuten später auf dem Parkgelände beim Europaplatz. Sie hatte noch eine gute Viertelstunde Zeit bis zur Ankunft des Zuges und kaufte ein paar Zeitschriften für sich – obwohl sie wusste, dass sie wahrscheinlich so schnell keine Zeit zum Lesen haben würde –, Schokoladenkekse für Manuel und Blumen für Sandra.
Während sie auf die Ankunft der beiden wartete, erinnerte sie sich wieder an die Zeit vor Manuels Geburt. Damals hatte Paula ihre Schwester eine Weile auf Distanz gehalten. Sandra war ihr mit ihrer Manie, alles zu psychologisieren, schwer auf die Nerven gegangen. Auch vor Paula hatte sie damit nicht haltgemacht, im Gegenteil. Ewig hatte Sandra an ihr herumanalysiert.
»Man muss ihre Schwester sein, wenn man Paula verstehen will. Sie ist total verschlossen!« Nach dieser Einführung hatte sie anderen dann erläutert, warum Paula zu viel arbeitete, sich so wenig Freude gönnte und ziemlich reserviert ihrer Familie gegenüber war: »Sie braucht das. Sie braucht diesen Abstand, und das ist überhaupt nicht böse gemeint. Ich nehme das auch nicht persönlich. «
Sandra hatte ein rührendes Übermaß an Verständnis für ihre Schwester, aber Paula hasste es, wenn sie damit anfing. Ihre Distanzlosigkeit war auch der Grund, warum sich Paula damals nur selten bei ihr meldete.
Eines Tages war Sandra überraschend bei ihr in Berlin aufgetaucht. Sie hatte sich von ihrem damaligen Freund Frank getrennt – oder er sich von ihr. Paula konnte sich nicht mehr genau an die Einzelheiten erinnern. Jedenfalls war Sandra zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger. Zunächst sprach sie von Abtreibung, aber es war bald klar, dass sie das nicht über sich bringen würde. Paula riet ihr nur, alle Möglichkeiten gut zu bedenken. Ohne zu einem endgültigen Entschluss gekommen zu sein, reiste Sandra wieder ab. Im Dezember desselben Jahres brachte sie Manuel zur Welt. Seitdem hatten die Schwestern wieder engeren Kontakt. Frank zahlte großzügig für seinen Sohn und besuchte ihn alle zwei bis drei Monate. Öfter ging nicht, denn in Düsseldorf lebten seine Frau und seine anderen beiden Kinder. Das hatte er Sandra verschwiegen.
Die ersten beiden Jahre interessierte Paula sich nicht wirklich für ihren Neffen. Sie stand gerade vor einer Beförderung, arbeitete wie eine Besessene. Aber kurz nach seinem zweiten Geburtstag, als sie die Weihnachtstage bei ihrer Mutter im Westerwald verbrachte, nahm sie Manuel plötzlich als richtigen kleinen Menschen wahr. Er sagte tatsächlich »Tante« zu ihr, das erste Kind, das zutraulich auf ihrem Schoß saß und ihren Geschichten lauschte, um ihr dann einen dicken Kuss ins Gesicht zu drücken. Manuel war zu einem süßen Jungen herangewachsen, der erste einfache Sätze sprach und, während er mit seiner Plüschgiraffe – einem Geschenk von Paula – in der Wohnung herumspazierte, hoch und falsch vor sich hin trällerte. Wenn die Erwachsenen redeten, schwieg er meist und beobachtete sie mit ernsten Augen.
Jeden Abend las Paula ihm vor und war gerührt, wie mucksmäuschenstill das Kind in seinem neuen großen Bett lag. Die dunkelblauen Augen dabei weit geöffnet und der Blick so konzentriert, als könnte er die Geschichte an der Zimmerdecke in Bildern sehen.
Manchmal bemerkte Paula, die noch spät im Nachbarzimmer las, wie er nachts aufwachte, doch er rief nur selten nach seiner Mutter. Paula hörte ihn dann nebenan in einer ihr gänzlich unverständlichen Sprache mit seiner
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