Unschuldig
die schöne Tote. Die Frau trug einen engen grauen Rock, der leicht hochgeschoben war. Ihre Beine waren gespreizt, die weiße Bluse voller Blut. Ihre Augenlider waren weit geöffnet, und der Rand der leeren Augenhöhlen stach scharf hervor. Über den Rändern lagen faserig die Reste von Sehnerven und Muskelsträngen. Und da, wo zuvor die Augäpfel gewesen waren, wie auch in den Nasenlöchern und im leicht geöffneten Mund bewegte sich etwas auf unheimliche Weise.
Paula beugte sich ein Stück herunter und sah genauer hin: Fette bräunlich rosa Würmer, die sich mit Blut vollgesogen hatten, lagen in Knäueln ineinander verschlungen und bedeckten fast das ganze Gesicht der Toten. Sie krochen aus den Augenhöhlen und aus dem Mund, sie tummelten sich in den Nasenlöchern und in den Ohren. Entsetzt fuhr sie zurück. »Mein Gott, was zum Teufel ist das …?« Dann wurde plötzlich alles schwarz vor ihren Augen, und lautlos sackte sie zusammen.
2
A ls Paula wieder zu sich kam, blickte sie als Erstes in das besorgte Gesicht von Martina Weber mit der ungesunden grauen Färbung. Ihr dünnes braunes Haar war streng in einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Seit dem tragischen Verlust ihres Bruders im Jahr zuvor hatte Dr. Weber nur wenige private Worte an Paula gerichtet. Sie hatte sich ganz in ihre wissenschaftliche Arbeit gestürzt. Nicht einmal an der Weihnachtsfeier in der Keithstraße wollte sie teilnehmen, und auch Paulas Grußkarte zum neuen Jahr blieb unbeantwortet. Paula fehlten die anregenden Gespräche mit der Rechtsmedizinerin, aber nachdem sie einige Versuche unternommen hatte, ihr näherzukommen, musste sie einsehen, dass Dr. Weber noch Zeit für sich brauchte. Jetzt genoss sie die Fürsorge der Ärztin beinahe: »Geht’s Ihnen wieder besser? Wollen Sie ein Glas Wasser?«
Ein paar Polizisten von der Bereitschaft schauten tuschelnd zu ihnen herüber.
Irgendjemand in der Nähe der Theke des Restaurants übergab sich geräuschvoll. »Zum Glück kotzt er in die Plastiktüte«, sagte eine männliche Stimme, aber Paula sah nicht hin. Sie dachte an den jungen Beamten, der ihr vorhin mit dem Schutzanzug geholfen hatte.
»Sorry, das ist das erste Mal …«, versuchte sie sich zu entschuldigen.
»Machen Sie sich nichts draus«, entgegnete Dr. Weber. »Manche gewöhnen sich nie daran. Kommen Sie.« Sie half ihr auf die Beine und bot ihr ein Tablett mit einem Glas Wasser und einem Espresso an. »Gehen Sie ein paar Schritte, damit Ihr Kreislauf wieder in Schwung kommt.«
»Wer ist die Tote?«
»Lea Buckow. Sie ist die Produzentin des Films, der hier gerade gedreht wird.«
»Was hat man mit ihrem Gesicht gemacht?«
»Jemand hat ihre Augäpfel entfernt und lebende Mehlwürmer in die Gesichtsöffnungen verbracht«, sagte Dr. Weber, nun wieder so sachlich nüchtern, wie Paula sie kannte. »Diese lieben Tierchen fressen alles, auch Eiweiß und Blut. Das ist für die ein Festschmaus hier.«
Paula trank den Espresso mit drei Stück Zucker, nahm einen Schluck Wasser, ging ein paar Schritte auf und ab und wagte dann erneut einen Blick auf die Tote.
»Und das ganze Blut?«
»Das kommt von der gewaltsamen Enukleierung der Augäpfel. Eine ziemlich blutige Angelegenheit«, erklärte die Ärztin.
»Man hat ihr die Augen herausgerissen, und daran ist sie gestorben? «
»Nein, mit großer Sicherheit ist sie daran nicht gestorben.«
»Sondern?«
»Auch wenn einem die Augäpfel gewaltsam entfernt werden, stirbt man deshalb nicht. Todesursache muss etwas anderes gewesen sein. Genaues kann ich aber erst nach der Obduktion sagen. Ein Messer jedenfalls hatte sie nicht im Rücken, und nach erster oberflächlicher Untersuchung kann ich auch keine tödlichen Verletzungen entdecken.«
Paula wurde wieder schwindelig. Sie musste sich an Dr. Weber festhalten. Die zog einen Stuhl heran und drückte Paula vorsichtig darauf. »Haben Sie denn nicht gefrühstückt?«
»Nein, nein, dazu hatte ich keine Zeit mehr«, murmelte Paula. Und dann setzte sie ziemlich unvermittelt hinzu: »Meine Schwester und mein Neffe kommen heute zu Besuch.«
»Ein Grund mehr, sich ein wenig zu stärken.«
Mittlerweile waren noch mehr Leute von der Spurensicherung eingetroffen, und Paula hörte die laute Stimme ihres Kollegen Tommi Blank.
»Einen schönen guten Morgen allerseits«, sagte er gut gelaunt in die Runde. Tommi war ein kräftiger Kerl mit kurzem schwarzem Stoppelhaar und ein besessener Sportler. Jeden Morgen joggte er erst mehrere Runden durch den
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