Unschuldslamm
einer anderen Kultur hinwies. Die beiden waren still gewesen, hatten sich während der gesamten Verhandlungsdauer an den Händen gehalten und aufmerksam zugehört. Und ihren Sohn beobachtet. Voller Liebe und Wärme – nichts hatte darauf hingedeutet, dass sie in ihm den Mörder ihrer Tochter sahen. Oder sogar die Auftraggeber waren.
Ruth hatte sowohl während der Verhandlungspausen als auch nach der Verhandlung mit den anderen Richtern darüber sprechen wollen. Über ihr Gefühl. Aber das Gespräch hatte sich nicht ergeben. Obwohl die Vorsitzende Richterin Veronika Karst sie in der ersten Pause ausdrücklich um ihre Meinung gefragt hatte. Ruth hatte angefangen, ihrem Gefühl Ausdruck zu geben, aber der ältere Richter hatte nur geschnauft und zu verstehen gegeben, dass Emotionen und vage Gefühlsduselei im Gerichtssaal fehl am Platz wären. Daraufhin hatte Ruth es nicht mehr gewagt, ihrem Unbehagen Ausdruck zu verleihen.
Nach der Verhandlung waren die drei Berufsrichter eilig ihrer Wege gegangen, nur Mitschöffe Ernst Hochtobel hatte mit Ruth verloren in dem riesigen Gerichtsgebäude gestanden.
»Sie müssen sich durchsetzen«, hatte er zu ihr gesagt. Ruth hatte ihn angeblickt und im ersten Moment nicht gewusst, wovon der Kerl redete.
»Sie haben als ehrenamtlicher Richter die gleichen Rechte und Pflichten wie ein Berufsrichter. Die müssen Sie schon wahrnehmen«, hatte der Rentner gemeint und sie dabei angesehen, als wäre sie seine Schülerin. Ruth hatte sich bevormundet gefühlt und war grußlos davongerauscht, aber wenn sie jetzt über die Worte des älteren Kollegen nachdachte, bereute sie ihre Reaktion. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich auf ein Gespräch mit Hochtobel einzulassen und mehr über diese seltsame Tätigkeit zu erfahren.
»Derya war ganz normal. Wie alle Mädchen. Sie hat kein Kopftuch getragen, und ich hatte auch keine Ahnung, ob sie Türkin war oder Kurdin. Das war einfach kein Thema.« Annika hatte sich auch einen Becher Tee eingegossen und rührte nun gedankenverloren mit dem Löffel darin herum.
»Bei der Verhandlung waren drei Mädchen.«
Annika sah Ruth interessiert an.
»Eine Blonde mit langen Haaren«, führte Ruth aus, »eine mit einem halblangen Bob und eine …« Ruth wusste nicht, was sie sagen sollte: Türkin? Kurdin? »… türkisch aussehende junge Frau.«
»Michelle, Lana und Özlem.« Annika nickte wissend. »Das war die Clique von Derya. Die waren immer zusammen.«
»Was haben die so gemacht?«, erkundigte sich Ruth.
Annika sah ihre Mutter empört an. »Hallo?! Woher soll ich’n das wissen? Ich kenn die nur aus der Schule.«
»Ich dachte bloß …«, so schnell wollte sich Ruth nicht geschlagen geben, »… weil Derya an dem Abend, bevor sie … Also an dem Abend war sie mit Freunden da beim Teufelsfenn unten.«
Ruth tippte mit dem Zeigefinger auf einen Artikel, dem sie die Information entnommen hatte. »Ist ja nicht so unbedingt euer Kiez. Oder?«
Annika zuckte mit den Schultern. Sie verlor das Interesse, sich mit Ruth über ihre Mitschüler zu unterhalten. Ähnlich zögerlich gab sie auch Auskunft, wenn Ruth ihrer Tochter entlocken wollte, wie diese ihre Freizeit verbrachte.
»Ich meine, Moabit und die Gegend am Teufelssee, das ist jetzt nicht gerade der nächste Weg?!«
Ruth ließ nicht locker. Ein Hauch von Verachtung lag in dem Blick, mit dem Annika ihre Mutter bedachte.
»Mama. Wir leben in Berlin. Glaubst du etwa im Ernst, dass wir in Moabit bleiben, wenn wir Party machen?«
Ruth wusste nicht, ob sie jetzt wirklich die Antwort auf die ohnehin rhetorische Frage hören wollte.
Die Verachtung wandelte sich in sanfte Herablassung.
»Mann, manchmal fahren wir raus nach Weißensee oder Friedrichshain. Kreuzkölln sowieso. Moabit ist so was von öde. Echt mal.«
Annika seufzte, bedachte Ruth mit einem mitleidigen Blick und stellte ihre Müslischüssel sowie die Teetasse in die Spüle. Kurz bevor sie aus der Küche rauschte, hielt Ruth sie noch einmal auf.
»Warst du schon mal da unten? Am Teufelsfenn?«
Annika runzelte die Stirn.
»Nee. Ich weiß gar nicht, wo das ist.«
»Grunewald, Teufelssee?!«, versuchte Ruth zu konkretisieren.
Damit schien Annika etwas anfangen zu können.
»Ach so, da. Nee, sind wir nie. Aber der Vali wohnt da, wahrscheinlich deswegen.«
»Vali?«
»Mit dem war Derya doch zusammen.«
Damit zog Annika endgültig aus der Küche ab. Die Audienz war beendet.
Ruth blieb nachdenklich zurück und starrte auf den Packen mit
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