Unschuldslamm
den Zeitungsartikeln. Der restliche Samstag war bislang noch nicht verplant, und Ruth hatte so eine Ahnung, wo sie diesen grauen freien Tag verbringen würde.
Sie hatte keine kleinen Kinder, keinen Hund, ja nicht einmal einen Partner. Sie joggte und walkte nicht und fuhr auch nicht auf dem Rad. Sie war damit in jeder Hinsicht ein Exot im Grunewald. Eine Frau mittleren Alters, die an einem Samstag mutterseelenallein im Erholungsgebiet flanierte. Dennoch kam Ruth sich nicht komisch vor, das hier war Berlin, hier waren noch viel seltsamere Gestalten unterwegs.
Sie genoss es, in der kalten Luft zu laufen. Die Hände hatte sie tief in den Taschen ihres langen Wollmantels vergraben, die Nase tief in dem Loopschal versteckt, den Annika ihr letzten Februar zum Geburtstag gestrickt hatte. Mützen konnte Ruth auf ihrer dicken Lockenmähne nicht tragen, die blonde Pracht wärmte sie aber auch so. Ein Stirnband aus dicker roter Wolle kuschelte sich zusätzlich um ihre Ohren.
Sie war die ganze lange Teufelsseechaussee bis zum Öko-Werk hinuntergewandert. Die Stelle, an der Aras mit Derya im Arm gefunden worden war, hatte sie links liegengelassen, sie wollte zuerst zur Sandkuhle. Ruth wollte keine Detektivarbeit leisten, indem sie an den Tatort zurückkehrte. Sie suchte keine Spuren oder sonstigen Hinweise. Belustigt dachte sie an die deutschen Krimis, die sie freitagabends sah. Oder zu einem Teil sah. In einem solchen hätte sie nun, ein halbes Jahr später, als Heldin noch den entscheidenden Hinweis gefunden, den die Polizei selbstverständlich übersehen hätte. Ein verdächtiger Fussel, der im Busch hängengeblieben war und der die DNA des Mörders trug, der daraufhin endlich seiner bösen Schandtat überführt werden würde.
Ruth maßte sich auch nicht an, dass sie etwas entdecken würde, was die Polizei nicht gefunden hätte. Sie hatte großen Respekt vor der Arbeit der Ermittler und war sicher, dass diese auch in dem Mordfall Derya Demizgül alles getan hatten, was möglich war, um den Mörder zu überführen. Ob sie aber den richtigen Mann überführt hatten, daran hatten sich bei Ruth vage Zweifel gemeldet. Und sie war hierhergekommen, weil sie sich erhoffte, besser verstehen zu können, was geschehen war.
Ruth stand an der oberen Kante der sogenannten Sandkuhle und blickte hinunter. Heller Sand, wie an der Bruchkante einer hohen Düne, führte steil bergab zu einem kleinen Sumpf. Kleine Kinder rannten und kugelten juchzend bergab, ein Mann warf für seinen Terrier einen Ball, zwei Mäusebussarde zogen am niedrigen grauen Himmel ihre Kreise und verteidigten aufmerksam ihr Revier gegen die Drachen, die eine Familie unten am Fuß des Sandabhanges steigen ließ.
Ruth versuchte, sich die Szenerie an einem Sommerabend vorzustellen. Das war nicht gerade schwer, schließlich waren in Berlin in lauen Nächten jede Grünanlage, jede Rasenfläche und erst Recht die Seen- und Flussufer dicht an dicht belegt mit den Bewohnern dieser Stadt, die glücklich zu sein schienen, dass sie aus der Enge ihrer Mietskasernen und Straßenschluchten ins Freie ausbrechen konnten. Jeder Zweite grillte, die anderen knutschten, spielten Frisbee oder waren mit ihren Hunden und Kindern beschäftigt – bevor auch sie den Grill anschmissen oder sich zu einer Gruppe mit Grill gesellten.
Gewiss war Derya mit ihrer Clique nicht alleine hier gewesen. Sicherlich hatten mehrere Leute sich in der Nähe vergnügt, und die Handvoll Schüler war nicht unbemerkt geblieben. Es hatte bestimmt eine Menge Zeugen gegeben. In der Verhandlung war noch nicht darüber gesprochen worden, wer an diesem Abend mit der jungen Kurdin hier gefeiert hatte. Außer von ihrem Freund, dessen Name nicht genannt worden war, war nur die Rede von »weiteren Jugendlichen« gewesen. Aber die Polizei hatte diese sicher vernommen und entsprechende Zeugenaussagen. Ruth war gespannt, ob dies Thema am kommenden Verhandlungstag sein würde.
»Vali«, hatte Annika den Freund von Derya genannt. In den Zeitungsartikeln kam er als »Mitschüler aus gutem Haus« vor – und als vermeintlicher Anlass für den Bruder, Aras Demizgül, seine Schwester für ihre verbotene Liebe zur Rechenschaft zu ziehen. Warum war dieser Vali eigentlich nicht verdächtig, Derya erstochen zu haben, fragte sich Ruth. Schließlich hatten die beiden hier bis spät in der Nacht zusammengesessen. Er hatte sie zum Bahnhof gefahren, und danach hatte niemand mehr die Schülerin gesehen – wenn man den Zeitungsartikeln
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