Unschuldslamm
und geküsst hatte, ihn so umklammert, dass er sich ihr nicht entwinden konnte. Sie hatte ihn fest an sich gedrückt, lange, bis er anfing zu weinen. Oder ihre Wutanfälle, die aus dem Nichts kamen. »Stimmungsschwankungen«, hatte der Vater gesagt, »Sibylle hat bloß wieder Stimmungsschwankungen.« Damit hatte er versucht, den kleinen Jungen zu beruhigen, aber er hatte nicht verhindern können, dass Valentins Angst vor den Stimmungsschwankungen seiner Mutter immer größer wurde. Er hatte Zuflucht bei seinem Vater gesucht, um der Mutter nicht ausgesetzt zu sein, aber dieser hatte sich in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und getan, als hörte er nicht, wenn Valentin vorsichtig an die Tür klopfte.
Wenn er überhaupt mal zu Hause war. Professor Doktor Quirin Bucherer war die meiste Zeit über in der TU , wo er forschte und lehrte. Oder auf Forschungsreisen, Vortragsreisen, Auslandssemestern. Immerhin hatten Valis Eltern Au-pair-Mädchen angestellt. Valentin erinnerte sich nicht an alle, nur einige wenige waren ihm im Gedächtnis geblieben. Elena, die ihm ›Schwarzer Peter‹ beigebracht hatte. Oder Anisa, die wunderschön singen konnte. Länger als ein halbes Jahr aber war keine geblieben. Keine hatte es Sibylle auf Dauer recht machen können, und so hatte Valentin irgendwann begriffen, dass es besser war, sich gar nicht erst an die Mädchen zu gewöhnen. Es tat sonst nur weh, wenn sie gingen.
Aber dann war Jonas gekommen. Im Gegensatz zum Erwartbaren, nämlich der Eifersucht des älteren Kindes auf das neu ankommende Geschwisterchen, hatte Valentin sofort gewusst, dass er in dem kleinen Bruder einen Verbündeten hatte. Einen verschworenen Partner. Einen, den er schützen und lieben konnte, mit dem er sich gegen Sibylle zusammentun konnte. Doch das war gar nicht notwendig gewesen. Erleichtert, dass sich der große Bruder so hingebungsvoll um den kleinen kümmerte, unterstützt von einer namenlosen Polin, Russin oder Ukrainerin, hatte Sibylle ihre Tätigkeit als Galeristin rasch wieder aufgenommen und verbrachte, ebenso wie der Vater, den Großteil ihrer Zeit in ihrem Job. Zu dem natürlich auch Ausstellungsbesuche, Vernissagen, Kunstmessen und Atelierbesuche gehörten. Valentin und Jonas waren den Großteil des Tages sich selbst überlassen – was ihnen nur recht war. Darum fiel es den Brüdern auch nicht schwer, sich unter Sibylles Joch zu beugen, wann immer sie zu Hause war und ihrer aller Leben bestimmte. Das war gutgegangen, bis Derya auf der Bildfläche erschienen war. Vor fast einem Jahr. Valentins erstes Mädchen.
»Du weißt ja, was du zu sagen hast.«
Die Finger seiner Mutter krallten sich in seine Schulter, kaum dass Jonas und sein Vater das Haus verlassen hatten.
Valentin schloss die Augen. Sein Magen krampfte sich schon wieder zusammen, und in seinem Mund sammelte sich saurer Speichel. Er musste sich beherrschen, einfach sitzen zu bleiben und seine Mutter zu ignorieren und nicht quer über den Frühstückstisch zu kotzen.
»Valentin«, die Stimme seiner Mutter wurde noch schärfer, »ob du weißt, was du zu sagen hast?«
»Oder nicht sagen soll. Das meinst du doch.«
Die Hand auf seiner Schulter entspannte sich leicht, die Finger bohrten sich nicht länger in sein Fleisch.
Er versuchte, durch die Nase zu atmen, um den Flattermagen zu beruhigen, aber dann sog er das schwere Parfum von Sibylle ein, und es wurde ihm noch übler. Wie sollte er es schaffen, sich im Gerichtssaal nicht zu übergeben? In einer Stunde würde die Verhandlung beginnen, und seine Mutter, sein Vater und er waren als Zeugen geladen. Seit Wochen bläute seine Mutter ihm ein, wann er damals nach Hause gekommen war. Dass er ohne Derya gekommen war. Wann er eingeschlafen war und wie viel er getrunken hatte. Lügen. Lügen. Lügen.
Valentin stand auf und verließ unter Schmerzen die Küche. Messer bohrten sich in seinen Leib. Seine Mutter rief ihm etwas hinterher, aber er verstand es nicht. In seinen Ohren rauschte laut das Blut. Das Blut. Sie war verblutet. Ihr warmes Blut war aus ihrem Körper geflossen und hatte nur eine kalte Hülle zurückgelassen. Derya.
Valentin stolperte wie in Trance in sein Zimmer, verschloss die Tür hinter sich, schaffte es gerade noch zum Bett. Er legte sich wieder unter die Decke, angezogen wie er war, und krümmte sich zusammen, machte sich so klein, wie er konnte. Durch die geschlossenen Augen flossen seine Tränen, und er konnte an nichts anderes denken als an sie.
B ERLIN- M OABIT, L
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