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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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Glauben schenken durfte.
    Ruth versuchte, sich vorzustellen, wie Deryas Abend verlaufen war, bevor ihr jemand das Leben genommen hatte. Es war warm gewesen, die Mädchen hatten vermutlich leichte Sachen getragen. Ein Grüppchen Sechzehnjähriger, das Alter, in dem Annika jetzt war. Sie hatten im Sand gesessen, gegrillt, geraucht, getrunken, vielleicht gekifft. Sie hatten geflirtet, bestimmt geknutscht, Spaß gehabt, sich frei gefühlt. Die Bilder, die Ruth von Derya gesehen hatte, schlechte Fotografien aus Zeitungen, grobkörnig und schwarzweiß, hatten ein bildschönes Mädchen gezeigt. Eine schlanke junge Frau mit weiblichen Formen, langen schwarzen Locken und großen dunklen Augen. Auf allen Bildern, die von ihr veröffentlicht worden waren, hatte sie gelacht. Sie wirkte ungezwungen. Ein glücklicher Mensch. Laut den Berichten hatte ihr Freund sie mit dem Rad zum Bahnhof gebracht, Zeugen erinnerten sich daran, einen jungen blonden Mann gesehen zu haben, der das Mädchen auf dem Lenker seines Fahrrades die Teufelsseechaussee hochgefahren hatte. Sie hatten gelacht, sie waren »angeschickert«, wurde ein Zeuge zitiert, sie hatten das Leben genossen, ihre Jugend, die Sommernacht, dachte Ruth beklommen. Sie wandte sich von der Sandkuhle ab und ging den Weg am Rand des Kiefern- und Birkenwaldes in Richtung Teufelssee zurück. Sie fror jetzt plötzlich und merkte, dass sie tief deprimiert war.
    Es war nicht gerecht, dachte sie. Es war nicht gerecht, dass ein junger glücklicher Mensch, der das alles noch spüren kann, der leicht sein kann und unbeschwert, dass dieser Mensch auf diese Weise zu Tode kommt. Als müsste Derya Demizgül bestraft werden für das Glück, das sie in den Stunden vor ihrem Tod empfunden hatte.

B ERLIN- W ESTEND, M OHRUNGER A LLEE,
EIN F REITAGMORGEN IM J ANUAR, HALB ACHT
    »Toast?«
    Es klang mehr wie ein Befehl als eine Frage. Aber Valentin schüttelte den Kopf. Er konnte nichts essen. Nicht heute.
    »Mit Nutella!«, krakeelte Jonas fröhlich. Er tat, als wüsste er nicht, was heute war. Jonas tat überhaupt immer, als wäre alles in bester Ordnung. Dafür liebte Valentin seinen kleinen Bruder. Für das sonnige Gemüt.
    Jonas schnappte sich den Toast, den seine Mutter in der silbernen Zange Valentin hingehalten hatte, und griff nach dem großen Nutellaglas.
    »Das ist schon dein dritter, Jonas«, sagte die Mutter strafend und schüttelte missbilligend den Kopf. Aber sie griff nicht ein. Im Gegenteil, sie setzte noch eins drauf. »Du weißt, wie viel Zucker in dieser Schokocreme ist.«
    ›Und trotzdem kaufst du sie immer wieder‹, dachte Valentin. ›Und du lässt ihn so viel davon fressen, wie er will. Weil du so verlogen bist. Weil du es genießt, ihn deine Verachtung spüren zu lassen. Aber bei Jonas kommst du damit nicht durch.‹ Er blickte hoch, zwinkerte seinem kleinen Bruder zu und knuffte ihn. Der grinste, die Zähne dunkelbraun von Nutella. Jonas war klein. Er war zehn Jahre alt und süß. ›Er weiß noch nicht, dass er bei Monstern aufwächst‹, dachte Valentin.
    Sein Vater, der seit einer Stunde den Kopf in die Tageszeitung gesteckt und sich wie jeden Morgen nicht am Gespräch beteiligt hatte, warf einen Blick auf seine Uhr, legte seufzend die Zeitung weg und stand auf. Das war das Signal für Jonas, die Milch runterzustürzen und sich Schuhe und Anorak anzuziehen. Der Vater musste nicht einmal etwas sagen. Kein »Komm« oder »Wir fahren los« oder »Zieh dich an«. Das war nicht mehr nötig in ihrer Familie. Weil alles geregelt war. Total eingespielt, hätte vielleicht jemand gesagt, der die Bucherers nicht kannte, aber das würde bedeuten, dass alle Familienmitglieder perfekt aufeinander abgestimmt waren. Doch das stimmte nicht. Sibylle, wie Valentin und Jonas zu ihrer Mutter sagten, hatte irgendwann in grauer Vorzeit festgelegt, wie die Dinge zu laufen hatten. Und alle drei Männer, der Vater inklusive, hatten die Rücken gekrümmt, die Köpfe gesenkt und waren ihrer Leitwölfin gefolgt. Weil es besser so war. Weil man gut daran tat, Sibylles Vorstellungen gerecht zu werden. Um ihre Tränen, ihre Wutausbrüche, ihre hysterischen Anfälle nicht ertragen zu müssen.
    Manchmal fragte sich Valentin, wie er es ausgehalten hatte in den ersten Jahren, bevor Jonas auf die Welt kam. Sieben lange Jahre war er Einzelkind gewesen. Er erinnerte sich daran, dass er sich manchmal vor seiner Mutter gefürchtet hatte. Vor ihren Anfällen beinahe gewaltsamer Zuneigung, wenn sie ihn gedrückt

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