Unschuldslamm
Beziehung zu ihrem Bruder?«
Michelle sah Hannes Eisenrauch verständnislos an.
»Ich weiß nicht … Was meinen Sie damit?«
Eisenrauch grinste und fragte mit generösem Unterton: »Ich drücke es mal anders aus. Hatten Sie den Eindruck, dass der große Bruder Aras Demizgül für die Erziehung Deryas zuständig war? Oder sich zumindest zuständig gefühlt hat?«
Michelle guckte erneut zu Aras, dann zu den Eltern. Die Mutter von Aras schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln.
»Nein«, antwortete die Schülerin. »Nein, das stimmt nicht. Er hat sich einfach um Derya gekümmert.«
»Gekümmert«, wiederholte der Staatsanwalt immer noch mit einem leichten Lächeln.
›Ich mag ihn nicht‹, befand Ruth. ›Er ist arrogant und herablassend.‹
»Können Sie das konkretisieren?«, fragte Eisenrauch die Zeugin.
Michelle schob trotzig den Unterkiefer vor. »Nein. Kann ich nicht. Er war für Derya da. Als großer Bruder. So einen hätte ich mir auch gewünscht.«
Ruth konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. ›Gut pariert‹, dachte sie. Die Eltern Demizgül drückten einander die Hände. Sie schienen erleichtert zu sein über Michelles Aussage, die das Bild, das der Staatsanwalt von dem Angeklagten zeichnen wollte, unterlief. ›Würden sie das auch tun, wenn sie glaubten oder wüssten, dass Aras Derya getötet hat?‹, fragte sich Ruth. ›Sicher nicht.‹
Hannes Eisenrauch ließ nicht locker. »Wenn Derya also spät dran war und nach Hause wollte, hätte sie ihrem Bruder jederzeit eine SMS schreiben können, und dann hätte er sie abgeholt. Ist das so richtig?«
Michelle guckte etwas verunsichert, als vermutete sie eine Falle, nickte dann aber.
»Ja. So war das.«
»Warum«, der Staatsanwalt fixierte die junge Frau nun mit seinen eisblauen Augen, »warum hat Derya dann an dem Abend gelogen und ihren Eltern geschrieben, sie sei noch bei Ihnen, ein Video anschauen? Und Ihre Mutter würde sie dann nach Hause bringen?«
Michelle rutschte auf dem Stuhl hin und her, begann, ihre Hände zu kneten, und guckte zu Boden.
»Eine offensichtliche Lüge, denn sie war ja gar nicht bei Ihnen. Nicht wahr, Frau Grobmann?«
Auch in die Zuschauerreihen war nun etwas Unruhe gekommen, die Journalisten wurden hellhörig. Dass Derya ihre Eltern mit dieser SMS belogen hatte, war offensichtlich eine neue Information, und so, wie der Staatsanwalt sie präsentiert hatte, konnte man sie nicht zu Gunsten des Angeklagten auswerten. Ruth hielt gespannt die Luft an.
»Das haben wir manchmal so gemacht.« Michelle wand sich. »Wenn die Eltern nicht wissen sollten …« Sie stockte.
»Wenn die Eltern was nicht wissen sollten? Dass ihre Tochter Derya nachts mit den Freunden Party machte? Warum nicht? Hatte sie Angst vor Strafe?«
Ruth empfand Mitleid für Michelle. Offensichtlich hatte diese sich sehr bemüht, sowohl die Eltern als auch den Bruder in einem guten Licht dastehen zu lassen, und nun drehte der Staatsanwalt es so, als habe Michelle über die Verhältnisse im Hause Demizgül nicht die Wahrheit gesagt. Ruth fand, Deryas Lüge war eine lässliche kleine Schwindelei. Sie selbst hatte zu dieser Notlüge das ein oder andere Mal in ihrer Jugend gegriffen, hatte behauptet, sie übernachte bei einer Freundin, obwohl sie bei einem Typen war. Einfach nur, weil sie keine Lust hatte, mit ihren Eltern herumzudiskutieren. Weil es einfacher war und keine Nachfragen provozierte.
Ruth fragte sich allerdings, ob es bei Annika auch schon so war. Soweit sie wusste, hatte ihre Tochter noch keinen festen Freund. Wenn sie ihr also sagte, sie schlafe bei ihrer Freundin, hatte Ruth das immer geglaubt. Jetzt kam sie ins Grübeln.
»Wie war das denn an diesem Abend, Frau Grobmann?« Der Staatsanwalt verschränkte die Arme vor der Brust, sein Ton war milder geworden, nachdem er das junge Mädchen da hatte, wo er es hatte haben wollen. Michelle schwieg.
»Sie waren da unten am Teufelsfenn. Sie, Georg Schadhauser, Valentin Bucherer, Leon Richter, Lana Groß und Derya Demizgül. Sie haben Spaß, Sie grillen, Sie trinken etwas. Derya soll um dreiundzwanzig Uhr zu Hause sein. Aber sie denkt nicht daran, aufzubrechen. Stattdessen schreibt sie ihren Eltern eine SMS . Ich zitiere: ›Bin noch bei Michelle, DVD glotzen, die Mama fährt mich heim, D.‹ Eine Lüge. Warum? Was hatte sie vor?«
Michelle biss sich auf der Lippe herum, bevor sie antwortete, behielt aber den trotzigen Ton.
»Sie wollte noch nicht gehen. Sie hat mit Vali geknutscht.«
»Aber
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