Unschuldslamm
ANDGERICHT, S AAL 500,
EIN F REITAGMORGEN IM J ANUAR, NEUN U HR
Obwohl Ruth diese Prozedur schon einmal mitgemacht hatte, war sie erneut befremdet. Sie ging hinter den drei Berufsrichtern in den Saal, ihr folgte Ernst Hochtobel. Alle Anwesenden in dem großen holzgetäfelten Raum standen. Erst als sie, die Richter, sich gesetzt hatten, setzten sich auch das Publikum, die Anwälte, die Protokollanten. Ruth ließ den Blick durch den Saal schweifen. Es kam ihr vor, als wären wieder die gleichen Menschen anwesend wie am ersten Verhandlungstag. Aras Demizgül und sein Verteidiger saßen am gleichen Platz, ebenso der Staatsanwalt, Hannes Eisenrauch. Die Protokollanten, die in ihre dunkelblaue Uniform gekleideten Polizisten, die Eltern von Aras, wieder händchenhaltend, eine Reihe Rentner, eine Handvoll Journalisten. Die drei Mädchen fehlten, fiel Ruth jetzt auf. Vermutlich, weil sie heute da waren, wo sie an einem Freitagmorgen um neun hingehörten: in der Schule.
Die Vorsitzende Richterin sagte ein paar Worte und eröffnete dann das Verfahren. Nachdem am ersten Verhandlungstag hauptsächlich die Todesursache, die Umstände der Auffindung der Leiche und die Situation am Fundort das Thema gewesen waren, sollte es heute um die Rekonstruktion des letzten Abends von Derya gehen sowie ihr Umfeld näher beleuchtet werden.
Als erste Zeugin wurde Michelle Grobmann aufgerufen. Als der Gerichtsdiener die junge Frau in den Saal führte, erkannte Ruth in ihr eines der drei Mädchen, die am ersten Verhandlungstag im Zuschauerraum gesessen hatten. Michelle war die Blonde, wie Annika richtig gemutmaßt hatte.
Zunächst wurde Michelle zu ihrem Verhältnis zur Ermordeten befragt. Das Mädchen schilderte eine Teenagerfreundschaft, wie Ruth sie auch von ihrer Tochter kannte. Die Kinder kannten sich flüchtig von der Grundschule, waren dann zusammen aufs Gymnasium gekommen, wo sie sich schnell angefreundet hatten. Von da an hatten sie beinahe jede freie Minute miteinander verbracht. Waren nach der Schule zusammen nach Hause gegangen, hatten zusammen gelernt, gingen auf Shoppingtour, übernachteten beieinander. So weit nichts Besonderes.
Michelle machte den Eindruck einer jungen Frau, die für ihr Alter erstaunlich reif und weit entwickelt war. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Derya musste sie schon früh für sich selbst sorgen, sie lebte bei ihrer alleinerziehenden und voll berufstätigen Mutter. Mit warmen Worten schilderte Michelle, wie sehr sie die Atmosphäre bei der Familie Demizgül genossen hatte – im Gegensatz zu ihrem eigenen Zuhause wuchsen die Geschwister Aras und Derya sehr behütet auf. Jeden Abend um sechs Uhr, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam, hatte die Familie gemeinsam gegessen. Der Termin war verpflichtend gewesen, aber Michelle betonte, wie gerne ihre Freundin dieser Verpflichtung nachgekommen sei. Sie selbst war mehrere Male bei diesen Abendessen zu Gast gewesen und hatte die gemeinschaftliche Atmosphäre bei Tisch sehr genossen.
Aras’ Verteidiger Kaimoglu hakte an dieser Stelle mehrfach nach, ob Michelle bei ihren Besuchen den Eindruck gewonnen habe, die junge Kurdin hätte unter großem Druck von Seiten der Familie, speziell von Vater und Bruder, gestanden. Michelle verneinte. Auch betonte sie, dass sich Derya niemals in der Hinsicht geäußert hätte, dass sie sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlte. Derya durfte ausgehen wie andere Mädchen auch. Sie musste kein Kopftuch tragen, und auch bei den Klamotten gab es kaum Einschränkungen. Zwar räumte Michelle auf Nachfrage ein, dass Derya strenger erzogen worden war als sie, beispielsweise was die abendliche Ausgehzeit betraf. Allerdings schien es bei Michelle schlicht und einfach gar keine Vorschriften diesbezüglich zu geben. Derya dagegen musste unter der Woche um neun zu Hause sein. Wenn es später wurde, benachrichtigte sie stets ihren Bruder, der sie dann abholte.
»Warum ausgerechnet ihren Bruder?«, hakte der Staatsanwalt nach. »Warum nicht ihren Vater? Oder ihre Mutter?«
Michelle zögerte und warf einen schnellen Blick zu Aras. Der blickte ihr direkt in die Augen, zeigte aber keine weitere Regung. Michelle wurde rot und schlug die Augen nieder.
›Sie steht auf ihn‹, dachte Ruth. ›Und sie möchte um keinen Preis etwas sagen, das ihn belasten würde.‹ Ihre Feststellungen machten die anderen Anwesenden bestimmt auch, dem Staatsanwalt jedenfalls war der Blickwechsel genauso wenig entgangen.
»Hatte Derya eine spezielle
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