Unschuldslamm
anstatt ihrem Bruder eine SMS zu schreiben, er solle sie etwas später abholen – denn das war, wie ich Sie verstanden habe, so üblich zwischen den Geschwistern –, greift sie zu dieser Lüge. Weil sie Angst hatte, dass ihr Bruder Aras Demizgül wütend wird? Weil sie Angst haben musste, ihm die Wahrheit zu erzählen? Weil er sie vielleicht bestraft hätte?«
»Einspruch!« Der Verteidiger stand empört auf.
»Einspruch stattgegeben«, die Vorsitzende Richterin nickte erst dem Verteidiger, dann Eisenrauch zu.
Der Staatsanwalt setzte sich wieder und lächelte den Verteidiger an.
Michelle raffte sich noch einmal verzweifelt auf. »So war das nicht! Derya hatte keine Angst vor ihrem Bruder! Sie wollte halt nicht … Sie wollte keine Diskussionen.«
»Keine weiteren Fragen an die Zeugin«, kommentierte Hannes Eisenrauch.
Michelle sackte ein wenig in sich zusammen, erleichtert, dass sie die quälenden Fragen des Staatsanwalts nicht länger beantworten musste, aber anscheinend auch verunsichert, weil durch sie das Bild entstanden war, dass Derya ihrer Familie den Freund aus gutem Grund verheimlicht hatte. Dieser Punkt war eindeutig zugunsten der Anklage ausgegangen, konstatierte Ruth unwohl.
Die Befragung der Zeugin Michelle Grobmann währte noch eine weitere halbe Stunde, aber weder der Anwalt von Aras noch die beiden Richter setzten dem Mädchen so zu wie der Staatsanwalt. Michelle erzählte von dem Verlauf des Abends, und es entstand ein Bild, das dem, welches sich Ruth vor Ort gemacht hatte, recht nahe kam. Michelle hatte sich von ihrer Freundin um 23.20 Uhr verabschiedet, als diese mit Valentin Bucherer in Richtung S-Bahnhof abgezogen war. Sie selbst hatte einen der beiden anderen Jungen mit nach Hause genommen – von ihrer Mutter anscheinend unbemerkt, wie Ruth sich wunderte.
Nach der Befragung der Schülerin – Ruth selbst hatte auf Fragen an die Zeugin verzichtet, sie war noch zu sehr damit beschäftigt, all die Eindrücke aus der Verhandlung zu sortieren – setzte Richterin Karst eine Verhandlungspause an.
Die fünf Richter zogen sich in ihr Beratungszimmer zurück.
Dieses Mal fasste Ruth sich ein Herz.
»Was die Zeugin geschildert hat – das deutet doch auf einen ziemlich harmonischen Familienhintergrund hin. Oder?« Sie blickte auffordernd in die Runde.
Der ältere Richter zuckte nur mit den Schultern, der jüngere nickte, schränkte aber sofort ein, man solle sich mit der Beurteilung zurückhalten, bis man mehr gehört habe.
»Ich gebe Frau Holländer durchaus recht«, sagte die Vorsitzende Richterin zu Ruths Erleichterung. »Die religiöse Motivation, die der Anklage zu Grunde liegt, ist für mich noch nicht ersichtlich.«
Ernst Hochtobel, der andere Laienrichter, nickte der Richterin zu, gab aber zu bedenken, dass man oftmals nicht wisse, was sich hinter der Fassade verberge.
»Ich finde aber, Michelle Grobmann hat einen ziemlich guten Eindruck vom Familienleben der Demizgüls bekommen können. Sie ist über Jahre dort ein und aus gegangen«, wandte Ruth ein. »Sie war die engste Freundin von Derya; wäre diese irgendwie drangsaliert worden, vom Vater oder vom Bruder, hätte sie es Michelle bestimmt erzählt.«
»Aber Michelle nicht notwendigerweise uns«, kommentierte Richterin Karst.
Dem konnte Ruth nichts entgegensetzen.
Im Lauf des weiteren Verhandlungstages wurden noch weitere Freunde von Derya, aber auch von Aras vernommen. Alle zeichneten das gleiche Bild der Familie: Zwischen Eltern und Kindern, aber auch unter den Geschwistern habe ein gutes und liebevolles Verhältnis geherrscht. Derya sei zwar im Verhältnis strenger als manch andere Freundin erzogen worden, habe sich jedoch nie bei Freundinnen über unverhältnismäßigen Druck von Seiten des Elternhauses beschwert.
Ruth nahm mit gewisser Genugtuung zur Kenntnis, dass es dem Staatsanwalt Hannes Eisenrauch schwerfiel, den Eindruck, Aras habe seine kleine Schwester kontrolliert und beherrscht, weiterhin aufrechtzuerhalten. Keines der befragten Mädchen, aber auch keiner der Jungen wollte diesen Eindruck, der in der ersten Befragung von Michelle entstanden war, bestätigen.
Es kamen weiterhin drei Kumpels von Aras zu Wort sowie zwei junge Frauen, die ein Verhältnis mit dem Angeklagten gehabt hatten. Diese sagten übereinstimmend aus, dass Aras Demizgül nicht zu gewalttätigen Ausbrüchen neigte. Der Verteidiger verzichtete beinahe durchgehend auf Fragen an die Zeugen, wie auch der Staatsanwalt. Es gab nichts
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