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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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beschimpft?«
    Halina Kurzikowa fiel es sichtlich schwer, von dem Vorfall zu erzählen. Sie wandte den Blick von dem jungen Mann ab und richtete ihn auf die Richterin. Als hoffe sie, bei einer Frau mehr Verständnis zu finden.
    »Er hat geglaubt, dass ich flirte. Dass ich mit einem anderen getanzt habe. Aber das war nicht so. Ich war nur … Wie sagt man? Ausgelassen?!«
    Eisenrauch wurde ungeduldig. »Ich möchte meine Frage wiederholen …«
    Die Richterin sah ihn streng an. Die Polin fiel ihm aber gleich ins Wort. »Hure. Das wollen Sie doch hören. Er hat mich eine Hure genannt. Ich habe ihm ins Gesicht geschlagen. Daraufhin ist er aus der Disko gerannt. Er hatte zu viel getrunken. Und dann ist das mit der Scheibe passiert.«
    »Keine weiteren Fragen an die Zeugin«, bekundete der Staatsanwalt zufrieden.
    Im Gerichtssaal war es vollkommen still.
    B ERLIN- M OABIT, L ANDGERICHT,
EIN F REITAG IM J ANUAR, VIERZEHN U HR
    Die Mittagspause hatten die Richter gemeinsam in der Kantine verbracht, allerdings ohne die Vorgänge im Gerichtssaal zu thematisieren. Ernst Hochtobel hatte Ruth darauf hingewiesen, dass unter Umständen an den Nebentischen Leute saßen, die ebenfalls mit dem Fall zu tun hatten. Ermittler oder Journalisten – es war ratsam, nicht in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen. Unterredungen dieser Art gehörten ins Beratungszimmer. Also sprachen sie über das Essen (könnte besser sein) und das Wetter (wurde nie besser) und die Kinder (die Besten).
    Ernst Hochtobel erzählte von seinen Enkeln und bekam plötzlich einen unerwartet weichen Ausdruck im Gesicht. Auch der ältere Richter, der stets desinteressiert wirkte, beteiligte sich plötzlich rege am Gespräch. Er war drei Wochen zuvor Großvater geworden. Die Vorsitzende Richterin war kinderlos, ebenso der junge Richter, dieser aber hatte sich vor einem halben Jahr verlobt und wünschte sich sehnlichst Nachwuchs.
    »Und wie ist es bei Ihnen?«, erkundigte sich Veronika Karst freundlich bei Ruth.
    »Alleinerziehend. Zwei Kinder. Der Große ist schon aus dem Haus, und meine Tochter, sechzehn, wohnt noch bei mir.«
    »Das passt ja«, platzte der junge Richter hervor.
    Ruth nickte. »Ja. Ja, ich muss viel an meine Kinder denken. Und wie unvorstellbar das ist …« Sie wollte es nicht aussprechen.
    »… dass der eigene Bruder seine Schwester tötet?«, führte die Richterin ihren Satz fort.
    Ruth sah sie nur an.
    »Wir erleben sehr viel Unvorstellbares hier, Frau Holländer. Natürlich, das ist Ihr erster Fall als Schöffin, und er ist besonders hart. Und spektakulär. Aber dennoch: Sie werden einiges sehen und hören in diesen Räumen, das Sie erschüttern wird. Dinge, die Sie vorher nicht für möglich gehalten haben. Sie werden in Abgründe blicken.«
    Die Augen der blonden Richterin hatten sich verdunkelt, sie war sehr ernst, und Ruth wusste, wie wichtig es ihr war, diese Worte auszusprechen. Es war ganz still am Tisch geworden, keiner aß mehr, die drei Männer hingen ihren Gedanken nach. An Fälle, die sie begleitet, Menschen, die sie verurteilt, Schicksale, an denen sie teilgenommen hatten.
    »Und Sie werden nach den fünf Jahren Ihrer Amtszeit nicht mehr dieselbe sein wie davor«, ergänzte der ältere Richter.
    Die Frau war ihr auf den ersten Blick unsympathisch gewesen. Damals schon, vor fünf oder sechs Jahren. Und daran hatte sich nichts geändert. Ruth musterte die Zeugin. Sibylle Bucherer war eine Erscheinung. Eine, an die man sich sofort erinnerte, auch wenn man ihr nur einmal flüchtig begegnet war. Ruth war der Dunkelblonden allerdings schon mehr als einmal begegnet. Auf Festen im Gymnasium der Kinder. Lukas war zwei Jahrgangsstufen über dem Sohn der Bucherers gewesen, Annika eine darunter. Von Mann und Sohn hatte Ruth kein klares Bild vor Augen, aber die Ehefrau und Mutter war ihr präsent gewesen. Sibylle Bucherer sah aus wie eine zeitgemäße Ausgabe von Faye Dunaway. Schmal und hochgewachsen, zäh und flachbrüstig, mit der Eleganz eines Rennpferdes. Sie hatte ein starkes Gebiss mit großen aufgeworfenen Lippen, die, wenn sie gespritzt waren, von einem absoluten Künstler gemacht worden waren. Sie hatte kleine Grübchen in den Mundwinkeln und Lachfältchen um die Augen, obwohl Ruth sie noch nie hatte lachen sehen. Sibylle Bucherer wirkte stets elegisch und irgendwie entrückt. Ihr Haar mit den silbernen Strähnchen trug sie schulterlang und offen. Ein graues Kaschmir-Strickkleid und einzelne auffällige Schmuckstücke – war es

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