Unschuldslamm
Silber oder Platin? Ruth konnte das nicht auseinanderhalten – betonten ihre lässige Eleganz; ein buntbesticktes Tuch demonstrierte, dass sie durchaus für Experimente zu haben war. Sie führte eine Galerie in Charlottenburg, erinnerte sich Ruth. Johannes hatte das gewusst und dabei nur mäßig verhehlen können, dass er Sibylle Bucherer für eine Frau mit Klasse hielt – im Gegensatz zu Ruth.
Die Galeristin hatte ihre Personalien bestätigt, sie hatte über ihren Sohn Valentin gesprochen, wie fleißig, brav und allgemein gut geraten er war. Sie gab vor, sich nicht dafür interessiert zu haben, ob ihr Sohn ein Verhältnis mit Derya gehabt hatte, schließlich sei er schon groß und selbständig. Die Tote habe sie nur ein-, zweimal zu Hause gesehen, sie kannte die Eltern Demizgül aus der Schule, schließlich waren die Kinder in der gleichen Klasse. Aber man habe keinen näheren Kontakt gepflegt.
Als sie zum Verlauf des Abends, an dem Derya getötet wurde, befragt wurde, gab sie zu Protokoll, dass Valentin um circa 23.40 Uhr allein mit dem Fahrrad nach Hause gekommen war. Sie habe bemerkt, dass er etwas angetrunken war, und ihn sofort zu Bett geschickt. Von Derya sei nicht die Rede gewesen. Sibylle Bucherer wirkte bei ihrer Befragung offen und selbstsicher. Auf die Befragung des Vaters, Quirin Bucherer, wurde verzichtet, da sich laut Vernehmungsprotokoll der Polizei seine Aussage von der seiner Frau kaum unterschied. Er hatte nachts noch gearbeitet und nur am Rande mitbekommen, dass sein Sohn nach Hause gekommen war, gesehen hatte er ihn allerdings nicht mehr.
Dann wurde Valentin Bucherer in den Zeugenstand gerufen.
Ein großer, schmaler junger Mann nahm vor der Richterempore Platz. ›Er wird ein schöner Mann‹, dachte Ruth, ›er ist noch nicht ganz fertig, aber man kann es schon sehen. Er kommt nach seiner Mutter, nur dass er weich ist, wo sie verhärtet wirkt.‹
Ruth musterte den Jungen fasziniert. Er hatte blonde halblange Haare, die ihm weich in die Stirn fielen. Die Züge und die hochgeschossene Figur waren ganz die der Mutter, auch die sinnlichen vollen Lippen. Über den grünen Augen wölbten sich volle dunkle Brauen, die apart im Kontrast zu den hellen Haaren standen. ›Wie schön muss dieses Paar gewesen sein‹, dachte Ruth traurig. Die volle dunkle Schönheit der jungen Kurdin und die schmale, helle Silhouette des jungen Mannes.
Valentin Bucherer hatte die eckigen Schultern eines Sportlers, aber er saß ohne jede Körperspannung zusammengesunken auf dem Stuhl vor ihnen. Seine Stimme war dunkel und rau, sie passte nicht zu der trotz seiner Größe noch beinahe kindlich wirkenden Figur des Jungen. Er hatte die Ärmel seines großen Hoodies über die Hände gezogen und zupfte unsicher daran herum. Man sah ihm an, dass er in Trauer war.
Was Ruth erstaunt hatte, war die Geste, mit der der junge Mann den Bruder von Derya begrüßt hatte, als er den Gerichtssaal betreten hatte. Sie hatten einander die Fäuste entgegengereckt, aber die Geste war freundschaftlich gewesen, und über das Gesicht des Deutschen war die Andeutung eines Lächelns gehuscht. Auch Richterin Karst hatte kurz verwundert geguckt, als sie die Begrüßung der beiden jungen Männer bemerkte.
So begrüßt man wohl kaum den vermeintlichen Mörder der eigenen Freundin.
Valentin wurde zunächst ganz allgemein befragt, zu seinen Personalien, seit wann er mit Derya zusammen gewesen und ob er mit ihrer Familie vertraut war.
Der Junge sprach leise und stockend. Er hörte nicht auf, an den Ärmeln seines Sweatshirts herumzuzupfen, und er hob nur ganz selten das Gesicht, um jemanden anzusehen. Seine schüchterne Zurückhaltung stand in großem Kontrast zu seiner äußerlichen Erscheinung. Ruth hatte oft festgestellt, dass diese Sorte Kinder aus gutem Haus stets selbstsicher wirkte. Nie mussten sie sich um etwas bemühen, ihnen fielen die Dinge zu oder waren einfach vorhanden, ganz gleich, ob es teure Klamotten, technisches Equipment oder exklusive Accessoires waren. Besondere Hobbys und Reisen in ferne Länder und Essen in teuren Restaurants gehörten für sie zum Alltag und sicherten ihnen stets eine Schar Bewunderer. Kinder aus solchen Familien wie den Bucherers traten gemeinhin so auf, als könne man ihnen nichts anhaben, Daddy wird’s schon richten.
Nicht so der junge Mann, der vor ihnen saß. Er war feinnervig und sensibel. Nicht ein einziges Mal während der Befragung hatte er versucht, Blickkontakt zu seinen Eltern aufzunehmen,
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