Unschuldslamm
was in seinem Alter eher ungewöhnlich war. Eine Zeugenaussage vor Gericht war auch für einen Siebzehnjährigen nichts, was man einfach so hinnahm und mit links absolvierte. Aber Valentin Bucherer suchte keine Rückversicherung bei seiner Familie. Er saß auf dem Stuhl vor der Richterempore und wirkte, als sei er der einsamste Mensch der Welt.
»Waren Sie jemals bei Derya Demizgül zu Hause?«, fragte Richterin Karst in dem Moment.
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Das wollte sie nicht.«
»Das wollte sie nicht, weil sie befürchtete, Ärger zu Hause zu bekommen?«, fragte die Richterin nach.
»Nein!« Jetzt blickte Valentin kurz hoch. Das Weiß seiner Iris war rotgeädert, bemerkte Ruth, er wirkte, als habe er sehr schlecht geschlafen.
»Sie hatte keine Angst. Nicht vor ihrer Familie. Es war ihr einfach nur unangenehm.«
»Aber Ihnen war es nicht unangenehm, sie nach Hause mitzunehmen?«
Valentin ließ sich mit der Antwort Zeit. »Doch«, stieß er schließlich hervor. »Schon. Nicht wegen Derya, aber … das ist doch immer irgendwie … Also man will das ja nicht. Dass die Eltern dann was sagen.«
»Aber Sie haben Derya mit nach Hause gebracht. Wie oft?«
»Keine Ahnung. Zweimal. Vielleicht dreimal.«
Die Richterin musterte den Blondschopf des Jungen, der nun wieder nach unten auf seine Hände blickte, die unruhig am Stoff zupften und dann wieder in den langen Ärmeln verschwanden.
»Was haben Ihre Eltern dazu gesagt?«, fragte die Richterin.
Valentin sah kurz überrascht zur Richterempore, dann senkte er schnell wieder den Kopf und konzentrierte sich auf seine Ärmel. Er zuckte mit den Schultern. »Nichts.«
›Er ist ein schlechter Lügner‹, durchzuckte es Ruth. Das machte ihn ihr noch sympathischer. Sie dachte an Lukas, ihren eigenen Sohn. Sie hatte immer gemerkt, wenn er sie angeschwindelt hatte. Das war bis heute so. Er war kein geborener Lügner, und wenn er versuchte, sich mit einem mauen Vorwand Geld von ihr zu erbitten – das Rad braucht eine Reparatur, oder er muss Materialien für die Uni anschaffen –, dann wurde eines der abstehenden Ohren rot, und er zupfte unaufhörlich daran herum. Ruth verzichtete meistens darauf, ihren Sohn zu düpieren, indem sie ihn darauf hinwies, dass er nicht die Wahrheit sagte. Vielmehr war sie über seine Hilflosigkeit so gerührt, dass sie stets kommentarlos zum Portemonnaie griff und ihm gab, was er verlangte. Ihm fehlte das Gen, das einen befähigte, etwas eiskalt durchzuziehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das hatte er von Johannes, ein ganz erbärmlicher und miserabler Lügner. Als er begonnen hatte, ein Auge auf Mona zu werfen, hatte Ruth bereits vor Johannes gewusst, dass er mit der jungen Fotografin eine Affäre anfangen würde. Aber Johannes hatte es fertiggebracht, sie fast ein ganzes Jahr zu hintergehen, und mit seinen schlechten Lügen und gestotterten Ausreden mehr Schaden angerichtet, als wenn er einen klaren Schnitt gemacht und sie gleich verlassen hätte. Annika dagegen hatte die Kaltschnäuzigkeit von ihrer Mutter geerbt, dachte Ruth mit einem Anflug von Scham. Ihnen beiden war das Schwindeln schon zur zweiten Natur geworden, und oftmals konnte Ruth selbst nicht mehr unterscheiden, ob sie gerade die Wahrheit sagte oder nicht. Diese Gedanken führten sie abrupt wieder zurück in den Gerichtssaal, wo nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit Platz hatte.
Ruth betrachtete Valentin Bucherer und dachte, dass auch er vermutlich eher nach seinem Vater kam, was die Wahrheitsliebe anging. Seiner Mutter traute sie diesbezüglich alles zu.
Veronika Karst nickte. Durch sein Zögern hatte der Junge deutlich signalisiert, dass seine Eltern alles andere als begeistert gewesen waren von seiner kurdischen Freundin. Den Eindruck hatte Ruth auch schon bei der Befragung Sibylle Bucherers gewonnen. Diese hatte sich betont unbekümmert gegeben, was die Nationalität der Freundin ihres Sohnes anging, und immer wieder darauf hingewiesen, dass sie und ihr Mann Valentin absichtlich auf das in Moabit gelegene öffentliche Gymnasium anstatt auf eine Privatschule schickten, weil sie Wert darauf legten, dass die Kinder »mit vielen Ethnien« bekannt würden. ›Bestimmt nennt sie einen Behinderten politisch korrekt einen anders Begabten‹, dachte Ruth, ›aber wenn sie im Restaurant einen am Nebentisch hat, ekelt es sie.‹
Die Vorsitzende Richterin zog es vor, in diesem Punkt nicht weiter in den Jungen zu dringen, und befragte Valentin nun nach dem
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