Unschuldslamm
Verlauf des Abends. Er schilderte die nächtliche Szene am Teufelsfenn ebenso wie Michelle und die Freunde vor ihm. Gegen 23.20 Uhr sei er mit Derya aufgebrochen. Er habe sie mit dem Fahrrad zur S-Bahn gebracht. Auf dem Weg habe Derya mal auf dem Gepäckträger, mal auf der Stange und mal auf dem Lenker gesessen. Sie seien mehrfach gestürzt, ohne sich aber gravierend zu verletzen. Sie seien eben angetrunken gewesen, hätten gelacht, sich geküsst und den Abend genossen.
Ruth beobachtete Sibylle Bucherer, während Valentin erzählte. Er sprach flüssiger, wenn er von sich und Derya erzählte, von ihrer Liebe. Seine Mutter dagegen saß wie versteinert auf ihrem Platz. Sie stellte ein Lächeln zur Schau, schockgefroren.
»Sie haben Derya also zum Bahnhof gebracht«, resümierte die Richterin in dem Moment. »Wo haben Sie sich verabschiedet?«
Valentin zögerte. »Vor dem Nebeneingang«, gab er schließlich zu Protokoll.
»Warum haben Sie sie nicht hinuntergebracht, auf den Bahnsteig, und mit ihr gewartet, bis die S-Bahn kam?«
Der Junge starrte die Richterin an und sagte keinen Ton.
Veronika Karst legte den Kopf leicht schief und lächelte. Milde sagte sie: »Wäre das nicht normal gewesen? Das Mädchen, das man liebt, nicht alleine auf dem dunklen Bahnsteig stehenzulassen?«
Ruth sah, wie der Adamsapfel des Jungen nervös auf und ab hüpfte. Er schluckte, er versuchte zu sprechen, schluckte dann wieder. Schließlich brachte er mit brüchiger Stimme hervor: »Ich musste nach Hause. Es war schon spät.«
»Kurz vor zwölf an einem Samstagabend? Sie waren damals sechzehn. Sind Ihre Eltern so besorgt?«
»Ja«, platzte Valentin hervor und warf zum allerersten Mal einen flüchtigen Blick zu der Bank, auf der seine Eltern saßen.
Die Art, wie die Richterin den Jungen befragte, nötigte Ruth Respekt ab. Die Karst wirkte direkt mütterlich, verständnisvoll, aber sie drängte ihn dennoch in die Ecke. ›Sie stellt die richtigen Fragen‹, dachte Ruth und dass sie gar nicht wüsste, was sie selbst den Zeugen fragen würde. Sie hatte das gleiche Recht dazu wie die Berufsrichter, aber es war erst ihr zweiter Tag als Schöffin, und Ruth wusste, dass sie sich noch lange nicht aus der Deckung trauen würde.
Veronika Karst ließ das zunächst auf sich beruhen und erkundigte sich bei Valentin darüber, ob Derya im Verlauf des Abends ihren Bruder erwähnt, ihm eine SMS geschrieben hatte oder das Liebespaar diesem gar begegnet sei.
In Bezug darauf wich all das Scheue, das Verdruckste von Valentin. Er richtete sich etwas auf, suchte den Augenkontakt zu Aras und verneinte die Fragen der Richterin.
»Als Sie den Saal betreten haben, haben Sie den Angeklagten freundschaftlich begrüßt«, stellte Veronika Karst daraufhin fest. »Ist das nicht seltsam, wenn Sie davon ausgehen, dass Aras Demizgül Derya etwas angetan haben könnte?«
»Niemals.« Valentin wachte richtiggehend auf. »Er war das nicht. Absolut nicht. Die beiden … Das war nicht so ein Bruder-Schwester-Verhältnis. Derya hat ihrem Bruder vertraut. Und er …« Valentin sah hinüber zur Anklagebank. Aras versuchte ein Lächeln. »… er hat mich gemocht. Und ich ihn. Er war das nicht. Never.«
Die Richterin nickte. Der Staatsanwalt rollte die Augen nach oben. Auf der Prämisse, Aras Demizgül habe seine Schwester ermordet, weil sie einen deutschen Freund hatte, beruhte schließlich seine Anklage. Ruth triumphierte ein wenig. Ganz so einfach schien die Sache mit dem »Ehrenmord« also doch nicht zu sein. Sie hatte von Anfang an gedacht, die Anklage stehe auf tönernen Füßen, und sah sich durch das emotionale Plädoyer Valentin Bucherers in ihrer Auffassung bestätigt.
Das schien auch Valentin zu spüren, denn er setzte nun noch nach. »Das war irgendein Irrer. Ein Verrückter, der Derya am Bahnhof getroffen hat.«
Die Richterin nickte. Sie hatte keine weiteren Fragen, auch die anderen Richter nicht.
Ersü Kaimoglu, der Verteidiger, aber erhob sich.
»Herr Bucherer.« Der bislang so unscheinbare und stille Verteidiger lächelte ein Haifischlächeln, das es locker mit dem von Hannes Eisenrauch aufnehmen konnte. Dabei legte er zwei makellose Zahnreihen frei, die, so überschlug Ruth rasch im Kopf, gut und gerne den Wert einer Jahresmiete ihrer heruntergewohnten Moabiter Altbauwohnung überstiegen. Valentin Bucherer fiel wieder in sich zusammen.
»Wenn ich Sie recht verstehe, sehen Sie bei Aras Demizgül kein ausreichendes Motiv, um seine Schwester Derya, Ihre
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