Unschuldslamm
war Derya Demizgül zwischen 23.40 und 1.25 Uhr zusammen?«
Valentin Bucherer war mit der Frage sichtlich überfordert und zuckte hilflos mit den Schultern. Staatsanwalt Hannes Eisenrauch legte auch sofort Einspruch ein, dem von der Richterin stattgegeben wurde.
Ersü Kaimoglu nickte. »Ich bitte um Vergebung«, sagte er und hob theatralisch die Hände. Ruth wusste nicht, wer ihr unsympathischer war: der alerte Staatsanwalt oder der gerissene Verteidiger. Letzterer machte sie fast aggressiv, weil er noch immer nicht die Katze aus dem Sack gelassen hatte. Kaimoglu hatte eine Information in der Hinterhand, er wirkte so selbstsicher, er genoss das Hinauszögern seines großen Momentes so unverhohlen, dass Ruth ihn am liebsten angeschrien hätte, er solle endlich zu Potte kommen. Auch den anderen Menschen im Raum, den Reportern und den Zuschauern, den Polizisten, Zeugen und Richtern schien es so zu gehen. Die Anspannung im Saal 500 des Berliner Landgerichts konnte man mit Händen greifen.
»Gesetzt den Fall, Ihre Freundin Derya hätte noch eine Verabredung gehabt, gesetzt den Fall, sie hätte gewartet, bis Sie außer Sichtweite sind, und sich dann mit jemand anderem getroffen – hätten Sie vermutlich nichts davon mitbekommen, oder?«
Der blonde Junge runzelte seine Brauen. Er und mit ihm alle anderen im Saal wussten nicht, worauf der Verteidiger hinauswollte.
»Nein, natürlich nicht. Aber warum … Derya hätte es mir erzählt.«
»Aha«, sagte Kaimoglu befriedigt und beugte sich weit zu Valentin Bucherer hinüber. »Sie hatten eine aufrichtige Beziehung, verstehe ich das richtig?! Sie waren ehrlich zueinander, haben sich alles erzählt, hatten keine Geheimnisse voreinander?«
Jetzt regte sich Ruths mütterlicher Beschützerinstinkt mit Macht. Es war klar, worauf Kaimoglu hinauswollte. Jemand musste Valentin schützen!
Aber der Junge war kein Feigling. Auch ihm war klargeworden, dass der Verteidiger von Aras Demizgül ihn gleich mit etwas konfrontieren würde, das er lieber nicht über seine tote Freundin gewusst hätte.
»Ja«, gab er selbstbewusst zur Antwort, reckte das Kinn und strich sich die Haare aus dem Gesicht, »ja, wir haben uns alles erzählt.«
Ersü Kaimoglu kostete den Moment des Triumphes ein paar Sekunden aus. Dann sagte er, fast beiläufig: »Dann hat sie Ihnen bestimmt auch erzählt, dass sie verlobt war. Sie wollte heiraten.«
Y ASIKAN K ÖYÜ, S ÜDOSTANATOLIEN,
EIN S ONNTAG IM J ULI, VIER U HR MORGENS
»Zinar?!« Derya weigerte sich zu glauben, dass ihr Vater ernst meinte, was er ihr gerade mitgeteilt hatte. Aber an den betretenen Mienen ihrer Eltern und Aras’ erkannte sie, dass dem doch so war. Augenblicklich hob sich ihr Magen, und sie hätte sich am liebsten vor den Füßen ihres Vaters übergeben. »Zinar? Der ist widerlich! Der ist total krank, voll creepy!«, ihre Stimme wurde laut und überschlug sich, Derya wurde augenblicklich heiß, sie sprang von ihrem Bett auf. »Never! Ich heirate nicht Zinar, eher bring ich mich um!«
»Schsch«, machte ihr Vater und sah besorgt zur Tür.
»Ist das deine einzige Sorge?!«, jetzt schrie sie fast, »dass die anderen wach werden?«
Derya ging zum Fenster und riss es auf. Schnell war ihr Bruder neben ihr, hielt sie zurück und schlug das Fenster wieder zu.
»Nicht«, sagte er nur und sah Derya streng an. Sie versuchte, sich loszureißen, aber Aras hielt sie im Klammergriff. Sie trat und biss, sie schrie ihre Wut und Verzweiflung hinaus, aber es half nichts, Aras hielt sie unerschütterlich, er war so stark, viel stärker als sie. Ihre Eltern saßen nur stumm auf dem Bett und sahen zu. Betreten. Schuldbewusst. Verzweifelt.
Schließlich gab Derya den Kampf auf und hing schlaff in Aras’ Armen. Sie atmete heftig, die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie ließ den Kopf nach vorne hängen, die langen dunklen Locken schleiften auf dem Boden. ›Mein Leben ist vorbei‹, dachte sie. ›Ich komme nie wieder zurück. Sie sind mit mir den weiten Weg hierhergefahren, um mich hier abzuliefern. Mich, ihre Tochter. Ihre Ware.‹ Sie ließ sich einfach hängen, willenlos, sie sah die Haarspitzen, die auf dem Betonboden sanft hin und her wischten. Aras hatte begonnen, ihren Rücken zu streicheln. Derya schloss die Augen, was ihre Tränen nicht daran hinderte, zu fließen. Sie flossen ihr über die Schläfen in den Haaransatz. Mehr und mehr, warm und salzig, wie ein kleiner Bach. Nun begann sie zu schluchzen, erst noch zaghaft, bis sie
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