Unschuldslamm
Freundin, getötet zu haben.«
Der Junge bejahte.
»Sie geben an, dass Sie Derya um 23.40 Uhr, vielleicht ein paar Minuten früher oder später, am Bahnhof Heerstraße verlassen haben. Derya ging durch den Nebeneingang Boyenallee zu den Gleisen hinunter, Sie fuhren mit dem Fahrrad über die Heerstraße und bogen in die Sensburger Allee ein. Haben Sie sich noch einmal nach Ihrer Freundin umgedreht?«
Valentin rutschte unwohl hin und her. »Ähm.«
»Ähm was?«
»Ich glaube nicht.«
Kaimoglu musterte den jungen Mann, ohne etwas zu sagen.
Ruth beobachtete, dass Sibylle Bucherer sich noch aufrechter hingesetzt hatte. Sie hatte auf den Wangen hektische rote Flecken. Es schien, als habe sie Angst vor den Fragen des Verteidigers an ihren Sohn. ›Warum eigentlich?‹, fragte sich Ruth.
»Sie glauben also nicht. Recht ungewöhnlich für einen jungen, bis über beide Ohren verliebten Mann, oder?«
Der nun nicht mehr verliebte, sondern tieftraurige junge Mann starrte den Anwalt nur an. Dieser hob die Hand und lächelte erneut. »Schon gut. Sie müssen darauf nicht antworten. Worauf ich hinauswill, ist, dass zwischen dem Zeitpunkt, als Derya Demizgül sich von Ihnen trennte, und dem Zeitpunkt, als der Notruf einging, annähernd zwei Stunden vergingen.«
Jetzt wandte sich Kaimoglu ans Plenum, drehte sich einmal um die eigene Achse. »Einhundertfünfzehn Minuten. Was hat Derya in dieser Zeit gemacht? Wieso ist sie nicht unverzüglich in die S-Bahn gestiegen, wie es ihr Plan war? Und vor allem: Mit wem hat sie diese Zeit verbracht?«
Sibylle Bucherer umklammerte ihre Handtasche so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Hässliche Hände, fiel Ruth auf. Sie hat unnatürlich gekrümmte Finger mit dicken Knöcheln. Der Gedanke gehörte hier aber nicht her, insbesondere da der Verteidiger es so spannend machte, ganz offensichtlich hatte er einen weiteren Trumpf im Ärmel.
»Herr Bucherer hier mutmaßt, es könnte ein Fremder gewesen sein. Ein Irrer, wie er sich ausdrückt. Da muss ich mich doch fragen, ob die junge Frau sich über zwei Stunden mit einem Geisteskranken beschäftigt hätte, ohne dass irgendjemand darauf aufmerksam geworden wäre?«
Alle blickten Ersü Kaimoglu gespannt an, denn noch war nicht klar, auf was er hinauswollte.
»Wir haben kaum Zeugen, die Derya Demizgül in der fraglichen Zeit gesehen haben. Sie ist in der Zeit zwischen 23.40 und 0.40 Uhr wie vom Erdboden verschluckt. Dann sieht man sie auf dem Bahnsteig, sie wartet auf die S-Bahn. Eine Stunde nachdem Sie, Herr Bucherer, sie dort verlassen haben! Es fuhren in dieser Zeit einige S-Bahnen, die sie hätte nehmen können, aber sie stieg in keine ein. Natürlich ist es möglich, Herr Bucherer«, Kaimoglu verneigte sich leicht in Richtung des jungen Mannes, der ihn misstrauisch durch seine blonden Fransen anblickte, »dass jemand Ihre Freundin so lange in seiner Gewalt hatte. Aber ich bezweifle, dass dies an diesem Ort, in dem überschaubaren Gebiet zwischen dem S-Bahnhof, der vielbefahrenen Heerstraße, der Teufelsseestraße und dem Soldauer Platz, coram publico möglich gewesen wäre!«
Vor Ruths Augen erschien sofort die Stelle im Birkenwäldchen, in der Derya Demizgül zu Tode gekommen war. Die Polizei hatte eindeutig festgestellt, dass das junge Mädchen in dem kleinen Waldstück ermordet worden war und nicht woanders. Aras Demizgül hatte sie nach eigenem Bekunden dort gefunden und ungefähr fünf Meter zum Bürgersteig geschleift, um Hilfe zu holen.
Ruth hatte es vergangenen Samstag nicht lange ausgehalten, an der Stelle des Mordes zu stehen. Es war ein Stückchen Wald, nicht allzu dicht, mit einigen dürren Fichten, Birken und wildem Ahorn. Mehr eine zugewucherte Brache als ein Wald. Vor allem aber war dieses Areal durchzogen von Trampelpfaden und eingeklammert von Straßen. In der lauen Sommernacht im August, als der Mord geschah, waren zu dieser Zeit einige Menschen dort unterwegs, es gab in unmittelbarer Nähe ein Café, ein Restaurant und einen Imbiss. Eine denkbar schlechte Stelle also, um ungesehen einen Mord zu begehen. Der Mörder oder die Mörderin musste planlos, im Affekt vorgegangen sein, etwas anderes war für Ruth nicht denkbar.
»Mit ihrem Bruder Aras hat Derya diese einhundertfünfzehn Minuten jedenfalls nicht verbracht«, fuhr der Verteidiger gerade fort, »nachweislich hat sie ihm erst um 1.04 Uhr eine SMS geschickt mit dem Wortlaut: ›sitze am platz bei bhf heerstraße, spooky, hol mich‹. Wo also und mit wem
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