Unschuldslamm
schließlich von einem regelrechten Krampf geschüttelt wurde. Behutsam legte ihr Bruder sie auf das Bett, auf dem ihre Eltern saßen. Dann öffnete er selbst das Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Derya lag auf dem Bett, weinte und fühlte nichts. Zeit verrann. Eine Zigarettenlänge, eine Ewigkeit.
»Es tut uns leid«, begann ihre Mutter schließlich zu sprechen. Derya schluchzte lauter.
»Ich weiß, dass du ihn nicht liebst. Aber Papa und ich … Wir kannten uns auch kaum.«
Derya blinzelte und sah, wie ihre Mutter die Hand des Vaters nahm. Die beiden drückten sich gegenseitig. Derya schloss angewidert die Augen. Sie kannte das Märchen von der großen Liebe ihrer Eltern zur Genüge. Als kleines Mädchen hatte sie es romantisch gefunden, aber jetzt und hier fand sie es einfach nur verlogen.
»Und wir haben eine gute Ehe.« Die Stimme ihres Vaters war rau und klang nicht überzeugend.
»Ich kenne Zinar aber. Und ich hasse ihn. Ich werde ihn nicht heiraten. Nie, nie, nie und nie.«
Ihre Mutter biss sich auf die Lippe und sah den Vater ratlos an.
»Wir haben keine andere Wahl, Liebes. Wir haben es dir erklärt. Es geht hier nicht um dich.«
»Doch!« Derya richtete sich wieder auf und strich sich mit einer wütenden Handbewegung die Mähne aus dem Gesicht. Sie musste scheiße aussehen, fiel ihr in dem Moment ein, das ganze Make-up verheult, aber dann schob sie den Gedanken beiseite. »Wohl geht es um mich und mein Leben. Ich bleibe nicht hier, und ich heirate nicht diesen Freak. Der ist vollkommen irre.«
»Manchmal muss man seine eigenen Interessen hinter das Gemeinwohl zurückstellen.« Ihr Vater sprach streng, und an der eigenartig gestelzten Wortwahl erkannte Derya, dass er keineswegs so überzeugt war, wie er tat.
»Papa«, sagte sie weich und griff nach seiner Hand, »das kannst du nicht wollen.« Ihr Vater sah sie an, kurz nur, aber es reichte, dass Derya seinen Schmerz erkannte, aber auch, dass dieser Entschluss nicht mehr rückgängig gemacht werden würde. Sie würde den Sohn von Onkel Bozan heiraten müssen. Damit ihr Stamm weiter existierte. Menschen, die sie nicht kannte, die sie heute zum ersten Mal gesehen hatte. Die sich Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten nannten, aber Derya glaubte zu wissen, dass sie mit den wenigsten auch nur entfernt verwandt war.
»Mein kleines Mädchen«, sagte ihr Vater weich und streichelte ihre Hand. Derya zog sie zurück. Sie wollte nicht von denen getröstet werden, die an ihr den größten Verrat begangen hatten. Im Moment hatte Derya das Gefühl, ihr Leben sei eine einzige große Lüge gewesen. Ihr Leben in Berlin, das fast so war wie das ihrer deutschen Freundinnen. Das Leben, von dem sie geglaubt hatte, dass es immer so weitergehen würde. Dass sie studieren und Tierärztin werden würde. Dass sie mit Vali zusammen sein konnte. Das hatten ihre Eltern ihr vorgelogen und dabei die ganze Zeit gewusst, dass sie ihre einzige Tochter verkaufen würden, wenn die Zeit dafür reif war. Diese ganze Kurdenscheiße, diese Ziegenbauern und die kargen Berge, das verfickte Staudammprojekt und der reiche Onkel Bozan mit seinem kranken Sohn, das hatte es alles vor ein paar Wochen für sie nicht gegeben.
»Du musst natürlich nicht hierbleiben«, sagte ihre Mutter. »Bozan meint, dass Zinar gerne mal nach Berlin kommt und sich alles dort ansieht. Bozan macht dort auch Geschäfte, also vielleicht …«
Derya schnaubte nur verächtlich. Es war gleich, Zinar hier, Zinar dort, sie würde sterben, wenn sie ihn heiraten musste.
»Warum kann Aras denn nicht Sergul heiraten? Dann sind die Familien auch verbunden«, stieß sie hervor.
»Sergul ist … Zinar ist der erstgeborene Sohn«, antwortete ihr Vater.
»Sergul ist nichts wert, wolltest du sagen. Weil sie ein Mädchen ist. Wie ich.« Derya begann wieder, wütend zu werden, aber ihr Vater blockte die Diskussion sofort ab, indem er aufstand und zur Tür ging. Seiner Frau nickte er zu, zum Zeichen, dass diese ihm folgen sollte.
»Wir trinken noch einen Kaffee. Damit du ein bisschen Ruhe hast. Und wenn wir wiederkommen, wird geschlafen.«
Er versuchte ein Lächeln unter seinem schwarzen Schnurrbart. Dann verließen ihre Eltern das kleine Zimmer, in dem sie alle vier untergebracht waren, und Derya war mit Aras allein. Sie starrte eine Weile auf die Tür. Sie fühlte sich leer. Ganz leer.
»Kippe?« Ihr Bruder machte eine Kopfbewegung zum offenen Fenster hin. Matt stand Derya vom Bett auf und kletterte vor ihm aus
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