Unschuldslamm
ERLIN- M OABIT, B OCHUMER S TRASSE,
EIN F REITAG IM J ANUAR, ACHTZEHN U HR DREISSIG
Sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und reichte diese dann an Jamila zurück. Die Marokkanerin sah sie mit zusammengekniffenen Brauen an.
»Du fängst aber nicht wieder an, oder?«
»Nee!« Ruth schüttelte den Kopf. »Wobei … Wenn das die nächsten fünf Jahre so weitergeht …«
Ruth ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, ihre Freundin verstand auch so, dass sie von dem Schöffen-Job sprach. Sie hatte erst zwei von den zwölf Verhandlungstagen im Jahr hinter sich und fühlte sich schon völlig durch die Mangel gedreht. Nicht allein der Prozess belastete sie. Ruth war durchaus bewusst, dass sie das Pech, oder das Glück – je nach Sichtweise –, gehabt hatte, zu einem ebenso spektakulären wie traurigen Fall gelost worden zu sein. Dazu kam aber, dass sie sich über die Maßen mit den Beteiligten identifizierte. Ihre Kinder waren im gleichen Alter wie Aras und Derya, Derya war auf der Schule von Annika gewesen, sie selbst kannte die Eltern von Valentin Bucherer vom Sehen – all das reichte schon, um Ruth über Gebühr zu belasten.
Aber was ihr am meisten zusetzte, mehr noch als das im Gerichtssaal Gehörte und Gesehene, war die Tatsache, dass sie mit niemandem darüber sprechen durfte. Wie gern hätte sie Jamila jetzt erzählt, welch überraschende Wendung der Verhandlungstag heute genommen hatte. Welche fiese kleine Genugtuung sie empfunden hatte, als sich alle Köpfe zu Sibylle Bucherer umgedreht hatten. Die elegante Galeristin hatte ausgesehen wie ein Gespenst. Sie war aschfahl geworden, das Lächeln auf ihren Lippen war verschwunden, die Mundwinkel nach unten gezogen.
Nach dem überraschenden Geständnis von Valentin, dass er und auch seine Mutter eine Falschaussage unter Eid geleistet hatten, brach die Vorsitzende Richterin Veronika Karst die Verhandlung für diesen Tag ab. Der nächste Verhandlungstag wurde verschoben, damit die Polizei die Möglichkeit hatte, die Ermittlungen in dem Fall wieder aufzunehmen und die neue Situation zu beleuchten.
Obwohl er sich darüber im Klaren sein musste, dass seine Mutter eine empfindliche Strafe erwartete, ja durch die Falschaussage sogar in den Kreis der Verdächtigen geriet, glaubte Ruth auf dem Gesicht des jungen Bucherers so etwas wie die Andeutung eines Lächelns gesehen zu haben.
Vor allem aber, so erklärte ihr Mitschöffe Ernst Hochtobel nach der Verhandlung, würde die Polizei nun intensiv prüfen, ob jemand aus der Familie Bucherer als Täter in Frage käme. Zwar schienen sowohl Mutter als auch Sohn ein Alibi für die Tatzeit zu haben, aber da beide über den Verlauf des Abends nicht die Wahrheit gesagt hatten, war ihre Glaubwürdigkeit tief erschüttert. Valentin seinerseits würde mit Hilfe eines geschickten Anwalts kaum eine Strafe wegen der Falschaussage erhalten, schließlich war er minderjährig und hatte auf massiven Druck seiner Mutter gelogen. Aber an dieser würde alles hängenbleiben. Sibylle Bucherer war noch im Gerichtssaal auf Geheiß des Staatsanwalts festgesetzt und von den Justizbeamten abgeführt worden.
Beim Anblick der beiden Uniformierten, die die Frau aus Saal 500 begleiteten, hatte sich Ruths kleiner Rachetriumph allerdings gänzlich verflüchtigt. Der Ehemann und Vater, Quirin Bucherer, hatte in der Tür des Gerichtssaals gestanden und seiner Frau hilflos hinterhergeblickt. Er wirkte, als sei die Tragweite des Geschehens noch nicht in sein Bewusstsein gedrungen. Stumm war er mit seinem halbwüchsigen Sohn die ausladende Treppe des Landgerichts hinuntergegangen, und Ruth hatte bei ihrem Anblick gedacht, dass es sich auch bei diesen beiden Männern, die verloren wirkten und sich offenbar nichts zu sagen hatten, irgendwie um Opfer handelte. Um nichts in der Welt glaubte sie, dass Valentin als Täter in Frage kam. Das vom Verteidiger angeführte Motiv – Eifersucht, weil Derya einen anderen heiratete – konnte Ruth nicht nachvollziehen. Auf sie hatte der junge Mann keineswegs wütend oder verbittert gewirkt, sondern voller Liebe, wenn er von Derya sprach, und erfüllt von Schmerz, wenn er an ihren Tod dachte.
»Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl«, hatte Ernst Hochtobel unvermittelt gesagt. Ruth hatte sich umgedreht, sie hatte nicht gemerkt, dass sich der Rentner hinter sie gestellt und sie beobachtet hatte.
»Tun Sie das auch?«, gab Ruth zurück. Sie hätte nicht vermutet, dass Hochtobel überhaupt ein solches besaß, geschweige
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