Unschuldslamm
dem Fenster. Auch dieses Haus hatte eine Terrasse, ähnlich provisorisch wie die in dem Haus, in dem die Feier von Onkel Bozan stattgefunden hatte. Derya hatte sich gewundert, dass Bozan, der der reichste und mächtigste Mann hier unten war, in dieser Bauruine feierte. Aber Sergul hatte ihr erklärt, dass dies das Haus war, das Bozan einer seiner Cousinen bauen ließ, und zum Zeichen seiner Macht und ihrer Wertschätzung musste das Fest dort stattfinden.
Derya verstand diese Sprache nicht. Diese Regeln und Rituale, dieses »Das muss so« und »Das muss aber so«. Sie verstand nicht, warum ihr Clan von diesem Bozan abhängig war und warum sie geopfert werden musste. Sie wollte es nicht verstehen, weil es für sie ihren Tod bedeutete.
Sie setzte sich an den Rand der Betonplatte, die den Boden der Terrasse bildete, und ließ die Beine baumeln. Aus der geöffneten Zigarettenpackung, die Aras ihr hinhielt, nahm sie sich eine Kippe. Aras gab ihr Feuer, und sie inhalierte tief. Das Haus der Verwandten ihrer Mutter, in dem sie untergebracht waren, war eine armselige Bruchbude mit nur zwei Zimmern, ohne Bad und mit einer abgewrackten Küche. Es war das Haus von Leuten ihres Stammes, sie waren arm und erbärmlich, wie Derya fand. So wie alle, die in diesem Bergdorf lebten. Es gab nichts, einige Ziegen, eine klapprige Kuh. Schmutzige Kinder, zahnlose Alte und dürres gelbes Gras. Aber in dem Moment, Schulter an Schulter mit ihrem Bruder, vergaß Derya all das. Sie blickte über die Bergkette des östlichen Taurus hinüber nach Armenien und Georgien, wie Aras ihr erklärt hatte. Ein hauchdünner Streifen Gold, so dünn wie eine Rasierklinge, zeigte den kommenden Sonnenaufgang an.
Derya und Aras rauchten. Schweigend.
B ERLIN- M OABIT, L ANDGERICHT, S AAL 500,
EIN F REITAG IM J ANUAR, VIERZEHN U HR DREISSIG
Valentin Bucherer starrte Ersü Kaimoglu mit offenem Mund an. Er schluckte, sein Adamsapfel hüpfte. Er war zuerst ganz weiß geworden, jetzt stieg die Röte über den dünnen Jungenhals hinauf ins Gesicht.
»Das …«, der junge Mann schluckte schwer. Ruth hatte unendliches Mitleid. »Das ist nicht wahr.«
»Leider doch.«
Valentin blickte instinktiv zu Aras. Dieser schlug die Augen nieder.
»Ich war es nicht.« Valentins Stimme war heiser.
Jetzt erst begriff Ruth, welche neue Fährte der Verteidiger von Aras da gelegt hatte. Der Junge war schneller gewesen als sie. Valentin hatte augenblicklich ein Motiv. Nicht sehr überzeugend, fand Ruth, aber es war eines.
»Sie wussten also nichts davon, dass ihre Freundin bereits vergeben war?« Der Verteidiger bemühte sich, verständnisvoll zu klingen, aber der triumphierende Unterton in seiner Stimme schwang dennoch durch. »Obwohl Sie sich alles erzählten?«
Der junge Bucherer schwieg. Er hatte Tränen in den Augen.
»Vielleicht hat Derya Ihnen ja an diesem Abend davon erzählt?«, schlussfolgerte Kaimoglu.
»Sie war bei mir«, stieß Valentin hervor.
Alle im Gerichtssaal hielten den Atem an.
Kaimoglu wollte etwas sagen, aber die Vorsitzende Richterin hob einfach nur die Hand und nickte dem Jungen zu. Alle starrten ihn an. Valentin Bucherer hatte seine Hände ganz in den Ärmeln versteckt und zu Fäusten geballt.
»Ich habe sie nicht zum Bahnhof gebracht«, sagte er nun. »Wir sind dran vorbei und noch zu mir. Viertel vor zwölf oder so waren wir da. Meine Mutter war sauer, sie hatte keinen Bock, dass Derya noch mit zu mir kommt. Aber das war uns egal.« Wieder reckte er trotzig das Kinn, und Ruth stellte sich vor, wie der Junge seiner Mutter so entgegentrat. Stolz und trotzig. »Wir sind in mein Zimmer und haben geknutscht. Wir hätten fast … Aber dann ist meine Mutter reingekommen und hat Derya nach Hause geschickt.«
»Wann ist sie gegangen?«, fragte Richterin Karst nun.
»So halb eins.«
»Wer hat sie zur S-Bahn gebracht?«
Valentin Bucherer schluckte schwer. Seine Augen füllten sich jetzt richtig mit Tränen. »Keiner«, gab er mit rauer Stimme zu.
›Das wird ihm sein Leben lang nachhängen‹, dachte Ruth traurig.
Ein paar Sekunden lang war es ganz still im Saal. Viele mochten sich nun vorstellen, wie das junge Mädchen in der Nacht alleine zum Bahnhof gelaufen war. Und ihrem Mörder in die Hände gefallen.
»Warum haben Sie uns nicht die Wahrheit gesagt?«, fragte Veronika Karst nun.
»Meine Mutter hat das verlangt«, antwortete der Junge.
Ruth sah, wie Sibylle Bucherer das gefrorene Lächeln aus dem Gesicht fiel und sie die Fassung verlor.
B
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