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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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denn sich erlaubte, dieses für sein Urteil zu Grunde zu legen. Hochtobel wirkte immer steif und verknöchert, außer in dem Moment, als er von seinem Enkel gesprochen hatte. Er hatte in den Besprechungen, wenn die fünf Richter sich zurückzogen und den Fall besprachen, noch nicht einmal einen Hauch Empathie gezeigt. Er war stets rational und nüchtern, betrachtete lediglich die Fakten.
    Jetzt versuchte er ein schmales Lächeln. »Ich spreche nicht von mir. Ich spreche von Ihnen. Sie haben Bauchgefühl. Das ist wichtig. Dafür sind wir Schöffen da.« Er nickte nun und erhob einen Zeigefinger, was ihn Ruth sofort wieder unsympathisch machte. »Die Stimme des Volkes, das sind wir. Denken Sie dran!«, ermahnte er Ruth oberlehrerhaft. Dann setzte er sich die seltsame Altherrenkappe auf das schüttere Haupt, eine flache Schirmmütze aus dunkelgrau kariertem Stoff, aus welcher man Ohrenklappen ausklappen konnte, und ging steif und aufrecht davon. ›Komischer Kauz‹, dachte Ruth. Und dass sie aus ihm nicht schlau wurde. Aber auch nicht schlau werden musste.
    Als sie gegen halb vier an diesem Freitagnachmittag aus dem Gericht trat, zog bereits die Dämmerung herauf. Angeblich wurden die Tage wieder länger, aber davon war noch nichts zu merken. Dichtes Grau, Abgase oder schlicht Schlechtwetterwolken drückten in die breite Straßenschlucht und bewirkten, dass Ruth von dem Ende, an dem sie stand, nicht einmal bis zur Kreuzung hinuntersehen konnte. Bereits hinter der Johanniskirche verlor sich der Verkehr im Dunst. Es nieselte leicht, der Schnee war längst geschmolzen, und Ruth entschied sich, nicht nach Hause zu gehen, sondern am Hansa-Ufer entlang bis zum »La Paysanne« zu laufen. Es war eine Horrorvorstellung für sie, nach diesem Tag die Wohnungstür aufzusperren und alleine zu sein. Annika war heute über Nacht bei einer Freundin. Folglich hatte niemand zu Hause einen Tee gekocht oder Kerzen angemacht. Im Bistro allerdings war Jamila, auf den Tischen würden kleine Lichter brennen, es würde nach Zimt und Kuchen, nach Kaffee und Tee riechen.
    Ruth zog ihren Mantel eng um sich und stapfte los. Als sie eine halbe Stunde später im »La Paysanne« eintraf, bestätigte sich ihre Hoffnung; es war genauso gemütlich und kuschelig, wie sie gedacht hatte – ihr zweites Wohnzimmer. Es waren zwei Tische besetzt, Jamila hatte »Vitamia« von Gianmaria Testa eingeworfen und stand breit grinsend hinter der zischenden Kaffeemaschine, als Ruth durch die Tür schlüpfte. Ruth hatte noch nicht ganz ihren Mantel ausgezogen, da stand bereits ein Glas Earl-Grey-Tee auf dem Tresen, dazu einer von Ruths selbstgebackenen Florentinern.
    »Gast oder Arbeit?«, hatte Jamila gefragt, und Ruth hatte ihr geantwortet, dass sie erst als Gast, dann zum Arbeiten käme. Nach dem Tee hatte sie sich die Schürze umgebunden und ein Blech winzig kleiner Leberpasteten gebacken, die im »Paysanne« als Vorspeise mit Salat angeboten wurden.
    Ruth hatte sich vollkommen auf ihre Arbeit konzentriert: Sie hatte die Leber im Cutter zerkleinert, die Zwiebeln, Kräuter und Eier dazugegeben, mit einem Schuss Noilly Prat abgeschmeckt, den Teig mehrmals ausgerollt und wieder zusammengeklappt, so lange, bis er versprach, ein fluffig-mürber Blätterteig zu werden. Sie hatte die Pasteten gefüllt und in den Ofen geschoben und dann ihre Freundin um einen Zug von der Zigarette gebeten. Jetzt standen sie im Hof, drinnen waren kaum noch Tische besetzt, gleich würden sie schließen.
    »Was machst du am Wochenende?«, fragte Ruth Jamila, um nicht über Derya Demizgül zu sprechen.
    Jamila zuckte mit den Schultern. »Ausschlafen. Rumgammeln. Wir haben das ganze Wochenende frei. Am Sonntag geht Farid mit Naima ins Schwimmbad, bisschen planschen. Da bleibe ich im Bett.«
    Ruth musterte Jamila wehmütig. Ihren Erzählungen nach schien Jamila ein Bilderbuch-Familienleben zu führen. Farid, ihr Ehemann, ein Ingenieur, der irgendetwas am neuen Flughafen arbeitete, trug Jamila und die gemeinsame Tochter Naima auf Händen. Wann immer er ins Bistro kam, sprach er liebevoll und mit Hochachtung mit seiner Frau. Die beiden schienen verliebt wie am ersten Tag, obwohl sie eine sehr schwere Zeit hinter sich hatten.
    Jamilas Familie, die offenbar zur intellektuellen Schicht Marokkos gehörte, war gegen die Verbindung mit Farid gewesen, Ruth hatte nicht genau verstanden, warum, es schien mit dem unterschiedlichen Stand der beiden zu tun zu haben. Jamila sprach nicht gerne darüber.

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