Unschuldslamm
Andererseits würde es sie von dem Fall ablenken.
Ihr Ex-Mann spürte ihr Zögern. Anstatt sich dezent zurückzuziehen, zog er seine Jacke aus und setzte sich auf einen Barhocker am Tresen.
»Ist wirklich wichtig«, nuschelte er verlegen.
Ruth seufzte und fügte sich.
»Willst du was trinken?« Eine Antwort wartete sie nicht ab, stattdessen ging sie zur Tür, sperrte sie zu und löschte die Außenbeleuchtung. Dann wählte sie einen besonderen Rotwein aus, entkorkte ihn und goss zwei Gläser ein. Sie zündete ein kleines Teelicht an und stellte es zwischen sich und Johannes. Sie schob ihm ein Glas hin, hob das ihre und prostete ihm zu. »Mach’s kurz und schmerzlos, bitte.«
Ihr Ex-Mann hob sein Glas ebenfalls und musterte sie. Er schien etwas sagen zu wollen, aber dann überlegte er es sich anders, nickte nur knapp und trank einen Schluck. Aber auch nachdem er das Glas abgestellt hatte, rückte er nicht mit der Sprache heraus. Aber Ruth konnte warten. Sie sah hinter Johannes auf die große Panaromascheibe des Bistros. Hinter dem spiegelverkehrten Schriftzug konnte man bis ans Spreeufer sehen. Eine der Bogenlampen warf einen warmgelben Schein auf die Bäume am Uferweg. Es war dunkel, menschenleer und still. Kaum zu glauben, dass sie sich mitten in Berlin befanden. Im Schein der Laterne glitzerte es schwach, es hatte begonnen, ganz leicht zu schneien. Um ein Haar hätte Ruth diese Stimmung genießen können, das leere Restaurant, die Kerze, der Wein, ihr gegenüber ein Mann …
»Ich hab meinen Job verloren«, zerstörte Johannes’ Stimme den besinnlichen Augenblick. Ruth riss sich vom Fenster los und sah ihn an.
»Was?«
Johannes zuckte mit den Schultern, als könne er es selbst nicht fassen. Nervös drehte er das Glas zwischen den Fingern. Ruth sah auf seine Hände. Er hatte Intellektuellenfinger, dachte sie, obwohl sie durchaus wusste, dass er handwerklich sehr geschickt war. Langgliedrig, schmal und von kräftigen Adern durchzogen, wirkten Johannes’ Finger wie die eines Pianisten oder eines Schriftstellers. Ob Johannes wegen der Finger angefangen hatte zu schreiben? Oder hatten sich die Finger seiner Tätigkeit angepasst?
»… habe ich damals natürlich lieber die Abfindung angenommen«, fuhr Johannes mit seiner Erzählung fort, und Ruth wurde klar, dass sie ihm nicht zugehört hatte.
»Wir hatten damals den Plan mit dem Haus, und ich dachte: ›Was soll mir groß passieren, die brauchen mich doch.‹« Johannes seufzte und trank das kleine Glas in einem Zug aus.
»Also bist du schon länger nicht mehr fest angestellt?«, schlussfolgerte Ruth. Die Zeitung hatte ihm offenbar als Redakteur gekündigt und ihn als festen Freien weiterbeschäftigt. Jetzt war er plötzlich nur noch frei. Outsourcing. Es hätte Johannes doch klar sein müssen, dass es so kommen würde, dachte Ruth, warum war er so kurzsichtig gewesen? Laut fragte sie: »Warum hast du’s mir damals nicht gesagt?«
Ihr Ex schnaubte. »Hätte doch gleich wieder Stress gegeben.«
Ruth runzelte die Stirn, und Johannes fühlte sich bemüßigt zu erläutern: »Du hast doch immer nur Angst gehabt, dass ich nicht zahlen kann. Egal, was war, du hattest immer nur Angst, dass du deine Kohle nicht bekommst.«
Ruth wollte protestieren, aber dann hielt sie an sich. War das so? Das war Johannes’ Perspektive, und vielleicht, so dachte sie, hatte er recht. Für sich.
»Als das Baby kam, war das gleich das Zweite, was du gesagt hast: ›Aber du vergisst nicht deine Großen!‹« Er hatte ihre Stimme nachgeäfft, schrill und unangenehm.
›Du meine Güte‹, dachte Ruth, ›so sieht er mich?!‹ Das wollte sie nicht sein: die verbitterte Exfrau, die ihrem Mann die Hölle auf Erden bereitete, aus Frust, weil er sie verlassen hatte. Die ihn an die Geld-Kandare nahm, weil dies die einzige Verbindung war, die sie noch hatten.
»Es tut mir leid«, hörte sie sich sagen.
Verwundert blickte Johannes von seinem Glas hoch und suchte ihren Blick. Aber Ruth wich aus und schenkte Johannes etwas von dem Languedoc nach.
»Sind ja ganz neue Töne.« In seiner Stimme schwang Verwunderung mit.
Ruth dachte an Jamila. Sie war jetzt bestimmt schon zu Hause. Vielleicht wartete Farid auf sie. Vielleicht würden sie zusammen kochen, mit der Kleinen essen. Einer würde das Kind ins Bett bringen, ihm vorlesen, und danach würden die Erwachsenen den Beginn des Wochenendes genießen.
Sie dachte an die Familie Demizgül. Würden die Eltern zu Hause sitzen, nebeneinander auf
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