Unschuldslamm
Jedenfalls war sie eines Tages mit Farid geflüchtet, der sein Studium nicht beendet hatte und in Deutschland zunächst keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen konnte. Die beiden hatten sich acht Jahre lang irgendwie mit schlechten Jobs über Wasser gehalten, Jamila hatte geputzt. Bis sie die Stelle bei Ruth bekommen hatte und damit eine Festanstellung. Kurze Zeit später konnte auch Farid sein Studium in Deutschland fortsetzen. Mittlerweile hatte er es abgeschlossen und ebenfalls eine Festanstellung. Die beiden hatten geheiratet und ein Kind bekommen.
Obwohl Jamila oft Heimweh hatte und ihre Familie vermisste, die sie seit dreizehn Jahren nicht gesehen hatte, fühlten sie sich in Deutschland wohl. Manchmal wunderte sich Ruth, mit welchem Stoizismus Jamila die kleinen rassistischen Anfeindungen ertrug, die ihr regelmäßig widerfuhren. Aber die Marokkanerin, die von den Deutschen stets für eine Türkin gehalten wurde, nahm es mit Humor. Wenn Ruth sich für die latente Fremdenfeindlichkeit mancher Mitbürger schämte, lachte Jamila nur und betonte, dass sie aus einem Land komme, das nicht eben berühmt für seine Toleranz sei.
Als sie hörte, wie geborgen und gemütlich Jamila ihr Wochenende verbringen würde, verspürte Ruth einen kleinen Stich. So war es mit Johannes nie gewesen. Als Lukas auf die Welt gekommen war, war Johannes’ Stresspegel ins Unermessliche gestiegen. Er hatte bis zum Umfallen gearbeitet, weil er den Druck, der Ernährer zu sein, nicht ausgehalten hatte. Kaum zu Hause, bei Frau und Baby, hatte er sofort die Nerven verloren. Das Geschrei von Lukas, Ruth, die chronisch unterschlafen und entsprechend gereizt war – auf die Idee, am Sonntagmorgen mit dem kleinen Kind in ein öffentliches Schwimmbad zu gehen und Ruth ausschlafen zu lassen, wäre Johannes nie im Leben gekommen. Solange sie denken konnte, hatte sie die Wochenenden mit Johannes als belastet und unentspannt wahrgenommen. Erst später, als sie mit den beiden Kindern allein gewesen war, hatten sie gelernt, wie schön die freien Tage sein konnten. Sie waren im Winter nach Lübars rausgefahren zum Schlittenfahren. Im Sommer an die unzähligen Seen, hatten Fahrradtouren unternommen oder an Regentagen Kuchen gebacken und alte Edgar-Wallace-Filme im Schlafanzug geschaut. Bis Lukas sich freigestrampelt und die freien Tage mit Kumpels verbracht hatte. Zwei Jahre noch konnte Ruth die Zeit mit Annika allein genießen, aber seit längerem war auch das vorbei. Wochenende hieß nun auch für ihre »Kleine«: Party machen. Nicht zuletzt deswegen arbeitete Ruth gerne am Wochenende, das federte für sie die unerbittliche Härte eines Singlewochenendes ab.
Kurz bevor die letzten Gäste aufbrachen, öffnete sich die Tür zum Bistro. Ruth wollte dem neuen Gast gerade sagen, dass sie gleich schließen würden, da erkannte sie, dass es sich um Johannes handelte – allein. Ruth war überrascht, ihn zu sehen. Ihr Ex war vielleicht zwei- oder dreimal im »La Paysanne« zu Gast gewesen. Außer bei der Eröffnung, wo er nur den Kindern zuliebe ein Gastspiel gegeben hatte, war er noch einmal mit Mona zum Essen da gewesen. Und das auch nur, so hatten Ruth und Jamila unisono gemutmaßt, weil Mona neugierig gewesen war und prüfen wollte, ob ihre Vorgängerin tatsächlich so gut kochen konnte, wie alle behaupteten. Sie konnte, wie Ruth später Monas säuerlicher Miene ablas.
Aber auch heute war Johannes nicht gekommen, um sie zu besuchen, das konnte Ruth dem verschämt-verkniffenen Zug um Johannes’ Mund ablesen. Sie konnte noch immer in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Er begrüßte Jamila knapp, die sich schnell ihre Handtasche schnappte und von Ruth mit einer Umarmung ins Wochenende verabschiedete, und fiel gleich mit der Tür ins Haus.
»Hast du kurz Zeit? Wir müssen reden.«
Ruth blickte ihn an und überlegte. Der Tag war hart gewesen. Die Gerichtsverhandlung strengte sie an, und in ihrem Kopf jagten sich noch immer die Gedanken: Warum hatte Sibylle Bucherer gelogen? Wen wollte sie schützen? War dem Jungen ein Mord zuzutrauen? Warum erfuhr man jetzt erst, dass Derya verlobt war? Mit wem? Was bedeutete das für Aras?
Ihr war es gelungen, sich durch die Arbeit, das Kochen, einigermaßen davon zu befreien, aber jetzt, wo sie sich nicht mehr ablenken konnte, merkte Ruth, wie sie wieder nur an den Fall dachte. Eigentlich hatte sie jetzt wirklich keine Nerven, sich mit Johannes und seinen Problemen auseinanderzusetzen. Sie würden ohnehin nur streiten.
Weitere Kostenlose Bücher