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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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zahl nicht, es ist mir scheißegal. Ich schaff das schon. Ich hab’s immer geschafft. Auch ohne dich.«
    Johannes öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich aber anders und biss stattdessen von der Pastete ab. Ruth ließ er dabei nicht aus den Augen. Sie wusste, dass er jetzt Angst vor ihr hatte. Er hatte immer Angst vor Emotionen. Aber er hatte ein Händchen dafür, sich an Frauen zu binden, die genau das waren. Emotional.
    »Ich will einfach deine Jammerei nicht mehr hören. Echt.« Damit stand sie erneut von ihrem Barhocker auf und holte den Marillenschnaps.
    »Mmh mmh«, machte Johannes entsetzt und bedeutete Ruth mit vollem Mund, dass er den Schnaps für keine gute Idee hielt. Aber Ruth ließ sich nicht davon abbringen.
    »Du Spaßbremse«, gab sie zurück und goss sich ein kleines Glas ein. Sie roch daran, schloss die Augen und nippte. Der Brand schmeckte nach Kern. Früher hatte sie immer die kleinen weißen mandelartigen Kerne aus den großen Pfirsichkernen gebrochen und gegessen. Bis ihre Mutter davon erfuhr und ihr Himmelangst gemacht hatte. Das Innere der Pfirsichkerne sei hochgiftig, Blausäure sei darin, und Ruth habe Glück, dass sie nicht gestorben sei. Genau danach schmeckte jetzt der Marillenschnaps, und Ruth wusste, dass sie am nächsten Tag tatsächlich so gut wie tot sein würde, wenn sie ihn trank. Aber nicht wegen der vermeintlichen Blausäure. Sie kippte ihn auf ex.
    »Du hast keine Ahnung«, sagte sie, an Johannes gewandt. »Du hast keine Ahnung, wie traurig das Leben sein kann.«
    Sie musste die Augen schließen, weil ihr von dem Schnaps schwindelig wurde. Sie dachte an die zwei hinuntergeschlungenen Pasteten, und ihr wurde schlecht. Sie öffnete die Augen wieder, sah Johannes an und wusste, dass sie nachher auch noch schrecklich würde weinen müssen.
    Und sie begann, ihm alles zu erzählen.
    B ERLIN- C HARLOTTENBURG, O LYMPISCHE S TRASSE,
EIN F REITAG IM J ANUAR, KURZ VOR M ITTERNACHT
    In der Ferne stieg weißer Rauch über dem dunklen Nachthimmel auf. Klärwerk Ruhleben, das Kraftwerk Unterspree, die Müllverbrennungsanlage, der ganze Industriescheiß dahinten schlotete in die Nacht. Valentin starrte hinüber, in die Schneise, die die Bahntrassen zwischen den Bäumen schlugen. Am Rand der Spree, die sich dort im Norden immer wieder verzweigte, in die faule Spree oder die alte Spree, oder ausuferte in die Spreewiesen, zog sich ein Band von Industrieanlagen und Bahngleisen wie ein enger Gürtel durch die Stadt. Aus dem Westen von Spandau kommend, markierte er die nördliche Grenze des vornehmen Westends und Charlottenburgs. Siemensstadt und der Flughafen Tegel lagen dort hinten, weiter in östlicher Richtung folgte der Güterbahnhof Charlottenburg. Hier entschied sich die Spree, wurde zum kurvig mäandernden Großstadtwasser, vorbei an der Prachtarchitektur Berlins. Vom Schloss Charlottenburg durch den Tiergarten bis ins neue Regierungsviertel begleitete der Fluss Einheimische und Touristen auf Sightseeing-Tour. Der andere Arm aber markierte die Grenze zum Schmuddelbezirk Wedding. Er führte vorbei am Güterbahnhof Moabit, unter der Putlitzbrücke hindurch und zog eine scharfe Grenze bis zum Lehrter Güterbahnhof. Er teilte die Welten. Nur Moabit lag unentschlossen mittendrin, umarmt von den Kanälen. Eine Pufferzone, die das Gute vom Schlechten schied. Reich von Arm. Valentin von Derya. Sie waren sich hier begegnet, in der Welt zwischen den Welten. Ihre Liebe hatte hier einen Platz gefunden und nirgendwo sonst.
    Valentin umklammerte das eiskalte Geländer der Brücke und fixierte die Rücklichter der S-Bahnen und der Stellwerksignale. Dann drehte er sich um und starrte in die Richtung, aus der er gekommen war. Sein Blick folgte den Gleisen. Es kam ihm wie Hohn vor, dass Derya ausgerechnet dort ums Leben gekommen war, wo sie nicht hingehörte. Im piekfeinen Westend. In einer Welt, in der sie nichts zu suchen hatte. Jedenfalls, wenn man seiner Mutter Glauben schenkte.
    Seine Mutter. Er dachte daran, wie Sibylle ausgesehen hatte, als er ging. Sie hatte auf dem Ledersofa gelegen, ein Kissen umklammert, die Augen geschlossen. Ohne dass sie ein Wort gewechselt hatten, hatte er gewusst, dass sie wieder »Migräne« hatte. Auf ihrer Stirn pulsierte dann eine feine Ader unter der Haut. Sie zog die Brauen ganz leicht zusammen. Gerade so weit, dass sich keine Zornesfalten einprägen konnten, aber doch so, dass er und Jonas erkennen konnten, in welch fragilem Zustand ihre Mutter sich

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