Unschuldslamm
dann befand. Dass sie sie nicht ansprechen und auch sonst keinen Mucks machen durften. »Sybille hat Migräne«, flüsterte ihr Vater dann.
Valentin hatte Sibylle auch vorhin nicht angesprochen, als sie mit dem Vater vom Anwalt kam. Die Augen seiner Mutter waren gerötet gewesen, allerhöchstes Alarmsignal. Valentin hatte Jonas in sein Zimmer gezogen und mit ihm eine Runde Lego Star Wars gezockt, damit der Kleine gar nicht erst merkte, dass etwas nicht stimmte. Seine Eltern hätten sich sowieso nicht um ihn gekümmert, nicht an so einem Abend, und Valentin war froh, dass er sich mit Jonas ablenken konnte. Er hatte seinem Bruder Abendbrot gemacht und gewartet, dass dieser bei ihm im Bett eingeschlafen war. Dann hatte er das Haus verlassen. Sein Vater war nicht zu sehen, aber ein schwacher Lichtschein drang unter der Tür des Arbeitszimmers hervor. Seine Mutter lag im Wohnzimmer auf dem Sofa und hörte Mahler. Natürlich hatte sie ihn nicht aufgehalten. Hatte auch nicht gefragt, wohin er ging. Vielleicht hatte sie ihn gar nicht gesehen. Aber selbst wenn sie ihn bemerkt hätte, hätte sie geschwiegen.
Er trug keine Jacke, keine Mütze und keine Handschuhe, nur seinen Hoodie. Er fror, spürte seine Hände kaum noch, aber Valentin genoss den Schmerz. Zum ersten Mal nach sehr langer Zeit fühlte er überhaupt etwas. Er war wie betäubt durch sein Leben gegangen. Hatte gegessen, getrunken, geschlafen, weil es Routine war. Weil er gewohnt war, das zu tun. Aber er hatte nichts gespürt dabei. Keine Freude und keine Befriedigung. Er war weder ausgeschlafen noch müde gewesen. Hatte kein Süß, Sauer oder Scharf geschmeckt. Er hatte nur immer daran gedacht, wie sie geschmeckt hatte, wie sie sich angefühlt hatte, wie lebendig er mit ihr gewesen war. Seit Derya nicht mehr lebte, hatte er sich wie ein Zombie gefühlt. Aber heute, im Gerichtssaal, da war er plötzlich aufgewacht. Da hatte er verstanden, was passiert war. Als der Anwalt ihm gesagt hatte, dass Derya heiraten sollte. Da hatte er plötzlich klargesehen.
Valentin schwang erst ein Bein über das gusseiserne Geländer, dann das andere. In diesem Moment donnerte ein Zug unter ihm hindurch, und er betrachtete das fahle Gelb des Daches. Kurz überlegte er, ob er springen sollte; er hätte sich gerne flach auf das Dach gepresst und wäre ein Stück mitgefahren, hätte den Fahrtwind gespürt und das Beben im Körper. Aber es war zu hoch. Er war nicht lebensmüde. Valentin hatte nicht vor zu sterben. Seit er diesen Moment gehabt hatte, den klaren Blick, und deshalb auch mit der Lüge aufgeräumt hatte, ging es ihm besser. Er fühlte sich frei. Er hatte die Wahrheit gesagt und den Bann, den seine Mutter ihr Leben lang über ihn gelegt hatte, endgültig gebrochen. Er hatte sich von ihr befreit. Derya konnte er zwar nicht mehr zurückholen. Aber er war es ihr schuldig, dass er lebte. Dass er so lebte, wie sie es gewollt hätte. So, wie sie ihn geliebt hatte. Derya hatte ihm Leben eingehaucht, sie hatte ihm gezeigt, wie das ging: lebendig sein.
»Every time I close my eyes, I think, I think ’bout you inside …« Immer und immer wieder ging ihm der Song im Kopf herum. Er hatte ihn mit Derya gehört und nach ihrem Tod nur noch ihn, nichts anderes mehr. Es war ihr Song.
Valentin sog die kalte Nachtluft tief in seine Lungen. Sie roch metallisch und ein bisschen nach Kohle, nach Industrie. Nach Gummireifen und nach Großstadt. Sie roch nach Leben, und während er sie einsog, spürte er, wie die Kälte ihm eisern durch die Glieder kroch, wie seine Zehen prickelten in den dünnen Sneakers.
Derya hatte leben wollen. Selbstbestimmt. Mit allem, was dazugehörte, und Valentin wusste, dass er derjenige war, mit dem sie hatte leben wollen. Sie hatte es ihm gesagt, immer wieder. Und obwohl er sie liebte wie sie ihn, hatte er mit ihr Schluss gemacht. Hatte sich nicht gegen seine Mutter gewehrt, die ihm sein Handy in den Ferien weggenommen hatte, nur damit er keinen Kontakt mit Derya hatte. Er hatte sich gefügt, damit er keinen Stress hatte. Hatte sich einfach ausgeknipst, abgeschaltet, die sechs Wochen Ferien in der Provence wie ein Tier verbracht. Essen, trinken, schlafen. Nichts spüren.
Als er wieder nach Hause kam, wollte er Derya sofort anrufen. Als wäre keine Zeit vergangen. Für Valentin war es so gewesen, weil jede Minute ohne Derya eine tote Minute seines Lebens war. Er wollte ihre Stimme hören und sie sehen, und es sollte alles so sein wie vor den Ferien. Aber dann hatte
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