Unschuldslamm
dem Sofa und Händchen halten, so, wie sie es im Gerichtssaal taten? Sähen sie einen Film, ohne ihn zu sehen, und würden stattdessen an ihre tote Tochter denken? Oder an den Sohn, der vielleicht ein Mörder war? Oder keiner war, aber sein Leben im Knast verbringen würde?
Ruth dachte an Valentin Bucherer, der jetzt in seinem Zimmer sitzen, sich auf seinem iPod Bilder der toten Freundin ansehen und dazu sentimentale Musik anhören würde. An seinen Vater, der sich in die Arbeit stürzen würde, um nicht daran denken zu müssen, dass seine Frau vielleicht eine Mörderin war. An Sibylle Bucherer, die allein im Wohnzimmer säße und – was? Eine Valium schlucken würde? Mit einem teuren Whisky hinuntergespült?
Familie, dachte Ruth. Was für ein fragiles Gebilde. Familie, das sollte doch Geborgenheit sein und Schutz.
»Was macht ihr am Wochenende?«, erkundigte sie sich unvermittelt.
Johannes sah sie verständnislos an. »Keine Ahnung. Joanna ist bei Monas Eltern. Ich muss mich um einen Job kümmern. Mona trifft sich vielleicht mit Freunden, ich weiß nicht.« Jetzt sah er sie an. »Warum willst du das wissen?«
»Macht ihr nichts zusammen?« Ruth wollte ihn nicht ausweichen lassen.
Das leere Glas drehte sich immer schneller in Johannes’ Händen. Ruth erbarmte sich und goss ihm nach. Sich selbst auch. Statt einer Antwort fuhr Johannes sich durch die schütteren Haare. Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen und räusperte sich dann. »Ist grad schwierig im Moment.«
Kein Triumphgefühl. Keine Schadenfreude und auch keine Erleichterung. Ruth musterte den Mann, mit dem sie einmal ihr ganzes Leben verbringen wollte. Und dem sie alles Unglück der Welt an den Hals gewünscht hatte, als er diese ihre Lebensvorstellung mit Füßen getreten hatte.
»Mona ist …« Die Hände wischten nervös über den Tisch. Ruth wusste, sie durfte jetzt nichts sagen. Nur zuhören. Aber Verständnis durfte er von ihr nicht erwarten. »Das mit meinem Job, also das war hart für uns. Mona versucht, wieder als Fotografin unterzukommen. Sich vielleicht selbständig zu machen.«
»Toll.«
Der Blick, mit dem Johannes ihren Kommentar quittierte, sprach Bände. »Spar dir den Sarkasmus.« Seine Stimme klang bitter.
Mit einem Zug leerte Ruth ihr Glas Rotwein. Sie spürte sofort, dass sich ihr Kopf benebelte und ihre Knie weich wurden, aber sie würde gleich noch einen Marillenschnaps hinterherkippen. Wenn sie jetzt nicht trank, würde sie sich nicht beherrschen können und Johannes schlagen.
»Weißt du eigentlich, wie scheiße du bist?«, platzte sie hervor. »Du kommst hierher, um mir vorzujammern, dass du keinen Job mehr hast, dass deine Alte dich nicht mehr ranlässt, weil du keine Kohle mehr nach Hause bringst …«
»Ruth!« Das Entsetzen über ihren Ausbruch und den Tonfall stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ruth hasste ihn in dem Moment. Diesen Ausdiskutierer, diesen In-aller-Ruhe-darüber-Sprecher, dieses verdammte Weichei, der mit Frauen Kinder in die Welt setzte, ohne die Verantwortung dafür zu übernehmen, weil er so sehr mit sich selbst beschäftigt war.
»Weil du keine Kohle mehr nach Hause bringst! Sag doch, wie’s ist«, wiederholte sie aufgebracht. »Mir willst du sagen, dass du im Moment nicht zahlen kannst, aber anstatt dass du dich schämst, willst du auch noch mein Mitleid! Aber da hast du dich geschnitten!«
Erbost stand sie auf und ging nach hinten in die Küche. Ruth war voll in Fahrt, sie fühlte sich gut dabei, Johannes deutlich die Meinung zu sagen. Seit Jahren vermieden sie eine Diskussion über ihre Probleme, »der Kinder wegen«, wie sie beide betonten. Als ob man sich nicht einfach mal streiten dürfte, sich beleidigen, sich in die Pfanne hauen, dachte Ruth jetzt und fischte sich eine kleine Leberpastete aus dem Kühlschrank. Sie stopfte sie im Ganzen in den Mund. Tief befriedigt kaute sie, schluckte und schob die nächste Pastete hinterher. ›Ich muss die Maschine am Laufen halten‹, dachte sie belustigt, ›das Feuer darf nicht ausgehen.‹ Kurz bevor sie den Kühlschrank schloss, zögerte sie, zog dann das ganze Blech heraus und trug es hinüber zum Tresen.
»Da nimm«, forderte sie Johannes mit vollem Mund auf und schob ihm eine Pastete hin. Dabei fielen Blätterteigkrümel aus ihrem Mund. Ruth spülte mit Rotwein hinterher. Dann nahm sie die nächste Pastete und grinste Johannes an.
»Weiß du was – ich hab keinen Bock drauf. Ich hab null Lust, mir dein Geseier anzuhören. Zahl oder
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