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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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getätigt habe. Er hatte damals unter Eid versichert, seine Freundin um 23.40 Uhr am Bahnhof Heerstraße verlassen zu haben. Tatsächlich aber zeigte die Überwachungskamera die Kurdin erst um 0.40 Uhr auf dem Bahnsteig. Staatsanwaltschaft und Polizei konnten bislang nicht klären, wo sich Derya D. in der fehlenden Zeitspanne aufhielt. Nun ist das Rätsel gelüftet: Der junge Mann nahm die Kurdin noch mit nach Hause, wo sie sich weitere 50 Minuten aufhielt. Das aber sollte wohl nicht ans Licht kommen, und Beobachter des Prozesses fragen sich nun, welches Interesse Sibylle B. haben sollte, ihren Sohn zu einer Falschaussage zu drängen. Was bedeutet die Tatsache, dass sich das junge Mädchen in der Tatnacht im Hause der Familie B. aufhielt? Die Vorsitzende Richterin vertagte den nächsten Verhandlungstermin, und man darf gespannt sein, welche Ergebnisse die wieder aufgenommenen polizeilichen Ermittlungen dann zu Tage gefördert haben werden. Ist Aras D. am Ende doch unschuldig?
    B ERLIN- M OABIT, O LDENBURGER S TRASSE,
EIN M ONTAGMORGEN IM J ANUAR, SECHS U HR DREISSIG
    Die Meldung war im regionalen Teil der Zeitung erschienen, in der unteren Hälfte, rechts am Rand. Nicht unbedingt eine prominente Platzierung. Ruth fragte sich, wer sich überhaupt noch für den Prozess in Sachen Derya Demizgül interessierte. Und dennoch würden unzählige Berliner diese Meldung gelesen haben. In dieser Zeitung und in allen anderen regionalen und vielleicht auch überregionalen Blättern. Dem RBB dürfte es ebenfalls einen kleinen Beitrag wert sein. Und in Windeseile würde sich herumsprechen, wer sich hinter dem Kürzel »B.« versteckte. Die Familie Bucherer. Wie würde es heute für Valentin sein, in die Schule zu gehen und von seinen Mitschülern schräg angeguckt zu werden? Von den Lehrern mit schlecht verborgener Neugier gemustert? Und wie war der Tag für Professor Doktor Quirin Bucherer im Institut? Alle Kollegen würden wissen, dass seine Frau nicht nur einen Meineid geleistet hatte und deswegen eine Klage erwarten würde. Allen würde bewusst sein, dass sie ihren Sohn gezwungen hatte, eine wichtige Information in einem Mordfall zurückzuhalten, was sowohl sie als auch Valentin in den Kreis der Verdächtigen katapultierte. Ein Spießrutenlauf. Ruth hatte Mitleid mit den beiden Männern. Nicht mit der Bucherer.
    Sie dachte an die Information, die sie von Johannes bekommen hatte. Natürlich war auch der Polizei und der Staatsanwaltschaft bekannt, dass die Bucherer kein unbeschriebenes Blatt mehr war. Was würde in der Zeit bis zum nächsten Verhandlungstermin passieren? Welche Schritte würden die ermittelnden Beamten nun einleiten?
    Ruth goss sich einen weiteren Becher heißen Earl-Grey- Tee ein und zog die Beine an. Mit dem Kinn auf den Knien versuchte sie, ihre Zeitungslektüre fortzusetzen, aber es wollte ihr nicht mehr gelingen, sich darauf zu konzentrieren.
    Stattdessen dachte sie an den Bericht, den Johannes ihr hatte zukommen lassen. Sibylle Bucherer hatte damals in der Galerie einer Freundin gearbeitet. Sie war frisch verheiratet, aber noch nicht Mutter gewesen. Bei einer Vernissage war sie mit einer Besucherin in Streit geraten. Sie verdächtigte die Frau, ihrem Mann zu nahegekommen zu sein. Die andere bestritt dies, aber Sibylle Bucherer hatte nicht lockergelassen. Die Besucherin hatte sie daraufhin verbal beleidigt, was die Bucherer mit Handgreiflichkeiten beantwortet hatte. Der Streit eskalierte und endete damit, dass die Bucherer ihrer Kontrahentin die Faust zwischen die Zähne gerammt hatte. Es hatte zwar eine Anklage wegen Körperverletzung gegeben, aber Johannes hatte nicht herausfinden können, mit welcher Strafe Sibylle Bucherer davongekommen war.
    Ruth fragte sich, ob jemand, der zu gewalttätigen und hysterischen Ausbrüchen neigte, auch imstande war, ein junges Mädchen niederzustechen. Weil sie ihr als Freundin des Sohnes nicht genehm war? Ihr schien das an den Haaren herbeigezogen zu sein, andererseits: Es wurden Menschen schon aus weit niedrigerem Anlass getötet. Auch hier. Mitten in Berlin.
    Die alte Bahnhofsuhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte an, dass es langsam Zeit für Ruth war. Sie musste heute wieder in die Großmarkthalle, die Schränke des »La Paysanne« waren leer, und es stand ein Einkauf an. Die meisten Waren ließ Ruth sich liefern, von Grossisten, aber das betraf nur die Grundzutaten, die sie regelmäßig benötigte. Alles andere besorgte sie selbst.
    Ruth faltete die Zeitung

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