Unschuldslamm
Wohnungstür und war bereit, dem Tag noch eine Chance zu geben. Sie hatte sich fest vorgenommen, die Woche ohne Kind zu genießen und keine Trübsal zu blasen. Sie könnte zur Abwechslung nach der Arbeit mal ins Kino gehen, anstatt in den nächstbesten Supermarkt zu rennen. Oder das Schwimmbad aufsuchen, dort war sie als Studentin Stammgast gewesen. Eventuell ließe sich sogar eine ihrer Freundinnen, die sie über die Jahre sträflich vernachlässigt hatte, aktivieren und zu einem Barbesuch überreden. Ruth war wild entschlossen, etwas Neues zu wagen. Ein Leben zu leben. Ohne im Hinterkopf immer an die Kinder denken zu müssen.
Sie hatte kaum die Tür geöffnet, als das Telefon im Flur klingelte. Kurz zögerte Ruth, aber dann überfiel sie sofort die Panik, es könne das Sekretariat der Schule sein, das sie darüber informierte, dass etwas mit Annika geschehen sei. Sie schloss die Haustür wieder von innen, ging zum Telefon und registrierte erst im Moment des Hörerabhebens, dass die Nummer ihrer Eltern angezeigt wurde. Hätte sie es bloß klingeln lassen.
»Holländer.«
»Ja, hier auch.«
»Hallo, Mama. Ich habe heute schon an euch gedacht.«
»Ja? Ach, das sagst du doch bloß …«
»Nein, ehrlich. Ich habe mich gefragt, was denn nun mit euch ist, wann ihr kommt.«
»…«
»Mama?!«
Wieder blieb es still, bis Ruth ein unterdrücktes Schniefen vernahm. »Mama? Alles in Ordnung?«
»Kindchen, also, es ist mir ganz unangenehm …«
Ihre Mutter stockte. Jetzt schwante Ruth, dass ihre Mama etwas auf dem Herzen hatte. Normalerweise rief sie nicht so früh am Morgen auf dem Festnetz an, sie störte lieber bei der Arbeit auf dem Handy.
»Könnt ihr nicht kommen?«
»Ja. Nein.« Ihre Mutter schniefte jetzt laut und direkt in den Hörer. »Papa geht’s nicht gut. Wir haben schon storniert.«
»Papa?« Ruth bekam Angst. Sie nahm das Telefon mit ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Sie hatte das Gefühl, dass sie das, was jetzt kam, lieber sitzend anhören sollte. »Was ist denn mit Papa? Ist er krank?«
»Nein, nein, mach dir keine Sorgen.«
»Mama, verdammt!« Ruth brüllte unvermittelt los. In der gleichen Sekunde tat es ihr leid. Aber diese Art ihrer Mutter, alles herunterzuspielen, um nur ja niemandem zur Last zu fallen, dabei aber alles noch schlimmer zu machen, ging ihr einfach auf den Geist. Immer schon, aber noch nie so schlimm wie jetzt. Ihr Papa! Ruths Gedanken tanzten Samba. Papa, der Gesunde. Der Vitale. Der Sportler, der immer Gutgelaunte, der …
»Es ist das Herz. Er hat da was. Der Arzt sagt, Vorhofflimmern. Und dann zieht es immer so im Arm. Also, es ist besser, wir bleiben hier. Die weite Reise, du verstehst das doch, Ruthi?«
Ruth schloss die Augen. Nicht weinen, nicht jetzt, nicht vor Mama. Das würde alles noch viel schlimmer machen. Sie schluckte und antwortete ihrer Mutter mit fester Stimme.
»Natürlich versteh ich das. Ist auch kein Problem. Wichtig ist doch jetzt nur, dass Papa wieder auf die Beine kommt.« Es gelang ihr sogar, betont heiter zu wirken. »Kann ich ihn denn mal sprechen?«
»Er ist beim Arzt.« Ruths aufgesetzte Heiterkeit hatte gewirkt, das Wacklige in der Stimme ihrer Mutter war fast zur Gänze verschwunden. »Aber du kannst ihn ja heute Abend mal anrufen. Er freut sich.«
»Alles klar. Dann bis heute Abend. Und, Mama?!«
»Ja?«
»Halt die Ohren steif.«
Ihre Mutter legte kommentarlos auf. Ruth saß noch ein paar Sekunden auf dem Sofa, den Telefonhörer in der Hand. Sie fühlte sich schäbig. Sie hatte beinahe vergessen, dass sie nicht nur Mutter, sondern auch Tochter war.
Befragung der Zeugin Marianne Schmidt-Wessels
am 29. Januar um 11.00 Uhr, Polizeidienststelle 22, Charlottenburg.
Anwesend: PHW Wagner, PHW Schaller
Frau Schmidt-Wessels, nennen Sie uns bitte Ihren vollständigen Namen, Alter und Adresse.
Marianne Schmidt-Wessels. Wessels ist mein Mädchenname. Geboren bin ich am 16. März 1948 in Magdeburg.
Und Sie wohnen …?
Äh, natürlich. Ich wohne in der Mohrunger Allee Nummer 12. Westend.
Danke. Sie wohnen direkt neben der Familie Bucherer?
Ja. Das ist richtig. Ja.
Wir kommen jetzt zu Ihrer Beobachtung, die Sie meinen Kollegen gestern mitgeteilt haben.
Ja. Also. Das war am 25. August. Letztes Jahr. Beziehungsweise, es war ja schon nach Mitternacht, also der 26. August. Genau genommen.
Entschuldigen Sie bitte, Frau Schmidt-Wessels, dass ich unterbreche, aber warum können Sie sich an das genaue Datum erinnern? Ich weiß, Sie
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