Unschuldslamm
Rotwein plattgemacht und danach jeder noch drei Schnäpse – und vielleicht noch mal Rotwein? – getrunken hatte, war sie erst gegen halb zwei ins Bett gekrochen. Aufgedreht vom Alkohol und ihrem Gespräch mit dem Ex, waren ihr erst um drei die Augen zugefallen, und um sechs hatte der Wecker geklingelt. Druck auf den Augen, ein Messer im Kopf und Belag auf der Zunge hatten sie den gesamten Tag begleitet, und Ruth hatte ihre Schicht im Bistro nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft und stündlicher Aspirin-Zufuhr überlebt.
Aber den Kater war es wert gewesen. Ein derart intensives und aufrichtiges Gespräch wie an diesem Abend hatte sie mit ihrem Ex schon seit vielen Jahren nicht mehr geführt. Nicht, seit die Kinder auf der Welt waren. Jedenfalls empfand Ruth so, aber vielleicht malte ihre Erinnerung die Vergangenheit auch besonders schwarz, weil sie die Trennung noch immer schmerzte.
Als sie Johannes Freitagnacht gegenübergesessen und ihm beim Reden zugeschaut und dabei erstmals wahrgenommen hatte, dass er auch ein verdammt guter Zuhörer sein konnte, wenn es nicht um ihn ging, hatte Ruth genau gewusst, weshalb sie sich damals in ihn verliebt hatte. Mit einem zärtlichen Gefühl blickte sie auf seine langen, dunklen Wimpern, die die eines jungen Mädchens sein konnten. Seine hellbraunen Augen, die sie konzentriert, aber voller Wärme ansahen. Die mittlerweile schütteren, immer grauer werdenden Haare, die in wenigen langen Strähnen über die bemitleidenswert kahle Stelle am Hinterkopf fielen. Ruth hätte ihm gerne einmal darübergestreichelt, sie sah die dünne helle Haut unter den Haaren schimmern und dachte, dass es war wie mit der Stelle, an der das Eichenblatt auf Siegfried gefallen war, während er im Drachenblut gebadet hatte. Der runde kahle Fleck schien wie die verwundbarste Stelle eines Mannes in den mittleren Jahren. Plötzlich wurde er angreifbar, sensibel, wehleidig, weil er die Kraft der Jugend schwinden sah.
Aber Ruth konnte sich zurückhalten, denn trotz des liebevollen Blicks, den sie an dem Abend auf Johannes werfen konnte, hatte sie auch sehr klar gewusst, dass ihre tiefen Gefühle für ihn rein freundschaftlicher Natur waren. Sie kannte ihn so lange, sie konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Und sie wusste eines ganz genau: dass sie ihn nie wieder zurückhaben wollte. Und vielleicht half genau diese Erkenntnis, dass sie einen entspannten und tiefgehenden Abend mit ihm verbracht hatte.
Ruth hatte Johannes ihr Herz ausgeschüttet. Sie hatte ihm bis ins Detail von den Ereignissen im Prozess erzählt – obwohl sie das nicht durfte. Aber kaum hatte sie angefangen, von Derya und Aras, von Valentin und Sibylle Bucherer zu erzählen, konnte sie nicht mehr stoppen.
Johannes hatte aufmerksam zugehört. Er hatte behutsam nachgefragt, wenn sie sich in ihren Betrachtungen verrannt hatte, und er hatte keine Spur von Sensationslust erkennen lassen. Johannes hatte so empfunden wie sie: Wie konnte es sein, dass in einer nach außen hin gut funktionierenden Familie, einem liebenden Elternhaus, eines der Kinder gewaltsam ums Leben gebracht wird – ausgerechnet von seinem Geschwister? Kann es sein, dass die Kluft zwischen den Kindern viele Jahre lang unentdeckt tiefer werden konnte, so groß und unüberbrückbar, dass es eines kleinen Auslösers bedurfte, und der Bruder greift zum Messer, malträtiert seine jüngere Schwester mit zweiundzwanzig Stichen und schneidet ihr dann die Kehle durch?
Es lag außerhalb von Ruths Vorstellungskraft, dass eine Familie wie die Demizgüls ein so monströses Verbrechen gebären könnte. Und Johannes gab ihr recht. Sollte Aras Demizgül tatsächlich der Täter sein, würde wohl niemand je verstehen können, wie es dazu kommen konnte.
Es konnte nur, es musste, ein unbekannter Täter sein. Derya ein Zufallsopfer. Aber warum schwiegen die Demizgüls dann so beharrlich? Warum wehrte sich der junge Mann nicht mit Händen und Füßen, warum sprach der Anwalt dann nicht leidenschaftlich für die Unschuld des Bruders? Warum wollte die Familie auf einen Freispruch aus Mangel an Beweisen hinaus? Der Makel des Vorwurfs, seine Schwester ermordet zu haben, aber davongekommen zu sein, würde auf ewig an Aras Demizgül kleben bleiben.
Eine ältere Dame winkte Ruth herbei, weil sie ihre Rechnung begleichen wollte. Just in dem Moment klingelte das Handy. Ruth warf einen Blick drauf und wunderte sich. Es war Johannes. Sie nahm den Anruf an und bat Johannes, einen Moment zu
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