Unschuldslamm
zusammen, starrte auf das Ziffernblatt der großen Uhr und hörte auf das gleichmäßige Ticken. Die Abwesenheit ihrer Tochter schmerzte Ruth fast körperlich. Sie hätte es genießen sollen, diesen Morgen ganz alleine am Frühstückstisch zu sitzen, wenigstens diesen Morgen, den ersten, nachdem sie Annika gestern zum Bahnhof gebracht hatte. Die Klasse war für zehn Tage nach Florenz gereist, mit dem Nachtzug. Annika war so nervös und freudig erregt gewesen, dass Ruth in ihr wieder das kleine Mädchen gesehen hatte, das diese schon lange nicht mehr war. Aber als sie inmitten der anderen Eltern und Mitschüler, der Koffer, Taschen und Rucksäcke am Bahnsteig gewartet hatten, hatte ihre »Kleine« sie keines Blickes mehr gewürdigt.
Ruth hatte mit der netten Mutter von Annikas Freundin ein Gespräch angefangen, nur, um sich nicht ganz verloren zu fühlen. Wenigstens hatte Annika noch einmal verstohlen gewunken, nachdem sie in den Zug gestiegen war.
Ruth war alleine durch den Abend nach Hause gelaufen. Sie hatte sich ein bisschen darauf gefreut, mehr als eine Woche die Wohnung ganz für sich zu haben, aber schon jetzt, am ersten Morgen, vermisste sie Annika. Die leere Shampooflasche, das zerknüllte nasse Handtuch auf dem Boden, den Geruch des Deos, das ihre Tochter inflationär gebrauchte, aber auch die Umarmung und den Kuss, bevor sie in die Schule aufbrach. Je älter ihre Kinder wurden, desto schwerer fiel es Ruth, diese zu entbehren. Weil die Abwesenheit der Kinder sie darauf vorbereitete, dass sie bald allein leben würde. Dass sie alt war, weil ihre Kinder schon groß und selbständig waren. Es war ein Vorgeschmack auf die Einsamkeit.
Jetzt fiel ihr ein, dass sie in zwei Wochen Geburtstag hatte: den fünfzigsten. Ruth stöhnte auf. Sie hatte das Datum erfolgreich verdrängen können, nicht zuletzt, weil sie neben ihren Kindern und dem Bistro vor allem mit dem Prozess beschäftigt war. Was war eigentlich mit ihren Eltern, fiel es Ruth siedend heiß ein. Wollten die nicht kommen? Vor drei Monaten hatte ihre Mutter doch angekündigt, dass sie Bahntickets buchen würden? Normalerweise bekam Ruth dann eine detaillierte E-Mail von ihrem Vater, in der alle Abfahrts-, Umstiegs- und Ankunftszeiten ihrer Eltern aufgeführt waren. Aber so eine Mail war nie gekommen. Ruth nahm sich fest vor, ihre Mutter in den nächsten Tagen deswegen zu kontaktieren.
Sie ging ins Bad und begann, sich die Haare zu bürsten. Dabei beobachtete sie sich im Spiegel. Ihre Mundwinkel zeigten nach unten. Ruth lächelte. Es wirkte nicht besonders überzeugend. Es war eher ein starres Grinsen, das ihre Augen nicht erreichte.
Ruth legte die Haarbürste zur Seite und schob ihr Gesicht ganz nah an den Spiegel. Ihre Augen waren leicht geschwollen, die Lider verdeckten beinahe den immer spärlicher werdenden Wimpernkranz. Die Tränensäcke waren nicht faltig, aber seltsam prall, als hätte sie die ganze Nacht geweint. Sie hatte weniger Falten als manche ihrer Altersgenossinnen, lediglich über der Oberlippe zeichneten sich unschöne Riefen ab. Ihre Gesichtshaut war weich und zart, sie hatte einige Sommersprossen mehr als früher, oder waren das Altersflecken? Sie konnte insgesamt zufrieden sein, warum also war sie in letzter Zeit gar so uneins mit sich selbst? Sie hatte doch bereits eine Alterskrise durchgemacht, damals, als Johannes sie wegen der viel jüngeren Mona verlassen hatte. Kündigte sich jetzt schon wieder eine an? Eigentlich war sie in den letzten fünf Jahren, seit sie das »La Paysanne« führte, sehr mit sich im Reinen gewesen, warum also dieser Frust in der letzten Zeit?
Ruth schmiss die Dusche an, obwohl sie bereits nach dem Aufstehen ausgiebig darunter gestanden hatte. Aber jetzt stellte sie den Regler auf eiskalt. Sie begann mit dem linken Unterschenkel, dann kam der rechte. Führte den Strahl erst über die Außenseiten, dann die Innenseiten der Oberschenkel, linker Arm, rechter Arm. Als sie den Oberkörper erreichte, fing sie an zu brüllen. Rücken, Busen, schließlich das Gesicht. Jetzt war sie wirklich wach.
Ruth schüttelte sich wie ein nasser Hund, bevor sie zum Handtuch griff, um sich abzutrocknen. Aus Annikas riesigem Kosmetiksortiment schnappte sie sich eine Limetten-Bodylotion, und zum guten Schluss überwand sie den inneren Schweinehund und klopfte hingebungsvoll die Augencreme »Aging Eye Regeneration« auf die geschwollenen Tränensäcke und Lider.
Zehn Minuten später stand sie gestiefelt und gespornt an der
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