Unschuldslamm
er diese komische Nachricht gehabt, bei Facebook. Von dieser Sergul. Danach hatte er einen Bogen gemacht um Derya, hatte sich nicht getraut, ihr zu sagen, was los war. Hatte sie geschützt. Das hatte er jedenfalls geglaubt.
Wenn er daran zurückdachte, hasste er sich. Er war ein blöder Arsch gewesen. Derya hatte nicht verstanden, was los war, sie hatte mit ihm reden wollen, aber er hatte das nicht gekonnt. Reden. Sagen, was los war. Das hatte er nicht gelernt, weil es zu Hause nicht üblich war, miteinander zu reden. Also richtig, ehrlich. Über Gefühle und was einen beschäftigte. Es wurde nur »ausdiskutiert«. Und das hieß, seine Mutter sprach ohne Punkt und Komma auf ihn ein.
Warum hatte er Derya nicht gefragt, wer Sergul war und was da unten passiert war? In Anatolien. Warum er sie nicht mehr treffen durfte. Er hatte sich Derya aus dem Herzen schneiden wollen. Aber sie hatte es nicht akzeptiert.
Als sie sich im Teufelsfenn verabredeten, hatte Valentin schon gewusst, was passieren würde. Er war an dem Abend auf sein Fahrrad gestiegen und hatte sich nichts mehr gewünscht, als dass er Derya in die wunderbaren Locken fassen, ihre schweren Haare über dem Nacken anheben und dorthin küssen würde. Dort, wo sie besonders gut roch, wo ihre braune Haut ganz hell war und der dichte dunkle Haaransatz in zarten hauchfeinen Härchen auslief. Er wusste es, während er die Teufelsseechaussee bergab gerast war, so schnell, dass er an ihrem Ende schlingerte und das Hinterrad ausriss, weil er bremsen musste. Er wusste, dass er im Lauf der Nacht seine Nase an diese Stelle legen würde und ihren Duft einatmen. Dass sie ein bisschen schaudern würde und ihren Kopf drehen, ihre Wange auf seine legen und ihn dann küssen würde. Und genauso war es gekommen.
Er klammerte sich jetzt fest an das Geländer und zog beide Beine unter sich. Die Füße standen stabil auf dem runden Metall, und Valentin erhob sich vorsichtig. Bemühte sich, die Knie durchzudrücken und die Balance zu halten. Schließlich stand er, aufrecht und gerade, er breitete die Arme aus und schrie. Er schrie, so laut er konnte, sein Brustkorb wurde dabei groß und weit. Bis ein Auto vom Olympiastadion kam und laut hupte. Er erschrak und wäre um ein Haar vornübergekippt, aber er ließ sich geistesgegenwärtig nach hinten fallen, kam mit den Füßen auf, und während das hupende Auto neben ihm zum Stehen kam, sprintete er los. Er rannte in Richtung des Friedhofs und hechtete über das kleine Tor, rannte die Treppen hinunter und hörte nicht auf die Typen, die hinter ihm herbrüllten. Er rannte den ganzen Weg entlang der Gleise, so schnell er konnte, und dachte daran, dass er nichts mehr verpassen wollte. Nicht zögern und nicht ängstlich sein. Dass er leben wollte. Für Derya.
B ERLIN- M OABIT, B OCHUMER S TRASSE,
EIN S ONNTAGVORMITTAG IM J ANUAR, ELF U HR
Sorgfältig platzierte Ruth die feinen Orangenscheiben auf den Tellern, stellte die winzigen Glasschälchen mit Marmelade und Honig daneben, holte die warmen Croissants aus dem Ofen, legte sie in das Brotkörbchen und deckte sie mit einer Stoffserviette zu. Dann stellte sie den Brotkorb, die Teller, Besteck, Butter und zwei Schüsseln mit Café au Lait auf ein Tablett und trug es zu den beiden jungen Frauen, die es sich in der kleinen Nische am Ofen bequem gemacht hatten.
»Bon appétit«, wünschte sie und lächelte. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging zurück zum Tresen, wo sie ihren Tee und die Tageszeitung liegen hatte. Sie hatte noch immer das Zeitungsabo, das sie vor fast achtzehn Jahren aus Euphorie über die Festanstellung von Johannes bei ebendieser Zeitung abgeschlossen hatte.
Ruth setzte sich auf den Barhocker, warf einen Blick ins halb besetzte Bistro, und als sie feststellte, dass alle Gäste zufriedengestellt waren, setzte sie die Lesebrille auf und fuhr mit der Zeitungslektüre fort. Den heutigen Arbeitstag konnte sie richtig genießen. Sie hatte neun Stunden tief und ohne Störung geschlafen, war erfrischt und ohne Kopfschmerzen erwacht, hatte geduscht und sich die Beine rasiert, geschminkt und sogar ihre Haare einigermaßen in Form gebracht. Sich in ihr rot-oranges Wickelkleid geschmissen und – wagemutig – Pumps angezogen. Sie begutachtete sich im Spiegel und war sehr zufrieden mit der Frau, die zurückblickte. Seit Wochen hatte sie sich nicht mehr so frisch und fit gefühlt.
Der Tiefpunkt war der Samstag gewesen. Nachdem sie mit Johannes die ganze Flasche
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