Unschuldslamm
die ganze Nacht hier hocken und sich irgendein besoffenes Geseier anhören müssen. Derya hatte jetzt beide Hände in ihrer Handtasche vergraben, die Kippe zwischen die Lippen geklemmt, und tippte die SMS blind. Sie schrieb so viel und so schnell, dass sie nicht mehr auf die Tastatur schauen musste, das war wie Zehnfingersystem auf der Schreibmaschine, bloß dass sie mit beiden Daumen schrieb.
Die Bucherer merkte nicht, was Derya tat, sie war zu beschäftigt mit sich selbst. Als sie die Kippe zur Hälfte runter hatte, drehte sie sich schließlich zu Derya und legte einen Arm auf die Rücklehne. Derya hatte im ersten Moment geglaubt, die Frau wolle sie umarmen, und war ein Stück abgerückt.
»Ich wollte dich kennenlernen, Derya«, begann Valis Mutter. »Du musst das verstehen. Ich weiß nicht, wer du bist, und du kommst einfach so in unser Haus. Du nimmst Besitz von meinem Sohn …«
Fuck, dachte Derya und schaltete auf Durchzug. Die ist so hammerbreit. Das geht ja gar nicht. Sie wusste von Vali, dass dessen Eltern gerne tranken, alle beide und nicht wenig. Aber wenn der wüsste, dass seine Mutter nachts draußen rumläuft und seine Freundin vollschwallt, er würde sich so was von schämen.
»… seine erste Freundin. Und plötzlich ist er mir ganz fremd. Er war doch immer mein kleiner Junge.« Sibylle Bucherer schniefte, und Derya musterte die ältere Frau erschrocken. Diese hatte Tränen in den Augen, tatsächlich. Das kam vom Alkohol, dachte Derya, jetzt kommt die Heulphase. Die interessiert sich in Wahrheit doch gar nicht für ihre Söhne. Jetzt griff Sibylle Bucherer tatsächlich nach Deryas Arm und hielt ihn im Klammergriff.
»Nimm ihn mir nicht weg«, sagte sie und schob ihr Gesicht näher an das von Derya. Es war nicht klar, ob die Alte das als Bitte oder als Drohung meinte. »Nimm ihn mir nicht weg.«
Das Letztere, entschied sich Derya. Das Gesicht der Galeristin war jetzt verzerrt, vor Wut, Schmerz und Suff. Sie starrte Derya an und drückte deren Arm noch fester. Sie sieht scheiße aus, dachte Derya, wenn die so weitermacht, wird sie wie Gollum. Sanft versuchte sie, der Frau ihren Arm zu entwinden. Diese ließ tatsächlich los, brach aber gleichzeitig in Tränen aus. Voll der falsche Film. Derya kramte nach Taschentüchern, konnte aber keines finden. Dafür hatte das Handy vibriert, eine Antwort von Aras. »Mach mich auf den Weg«, leuchtete es gelb vom Display. Derya atmete auf. Lange würde sie das hier nicht mitmachen müssen.
Inzwischen hatte Sibylle Bucherer ein Taschentuch aus ihrer eleganten Strickjacke hervorgekramt und sich geschnäuzt. Jetzt fuhr sie sich durch die Haare, tupfte die Augen trocken und nickte.
»Okay«, sagte sie dann und blickte zu Derya. »Ich habe gesagt, was zu sagen ist. Wenn ihr ein Paar seid – bitte. Daran ist wohl nichts zu ändern. Aber ich warne dich: Mein Sohn hat auch noch eine Familie. Und die ist ihm wichtig.«
Derya nickte gehorsam. Was sollte das denn heißen? Zum Glück hatte sie das meiste von dem, was die Alte abgesondert hatte, verpasst.
»Ich fahre dich jetzt nach Hause.« Sibylle Bucherer erhob sich rasch und schwankte leicht.
»Was? Ach nee, danke, mein Bruder holt mich ab.« Derya versuchte ein halbherziges Lächeln.
Sibylle Bucherer zog eine Augenbraue hoch, überlegte kurz, machte aber keinerlei Anstalten, Derya zu überreden.
Verpiss dich, bitte, dachte das Mädchen. Dann blickte sie der hochaufragenden Gestalt der Frau nach, die sich grußlos umgedreht hatte und nun die Heerstraße an der roten Ampel überquerte.
B ERLIN- M OABIT, O LDENBURGER S TRASSE,
EIN M ITTWOCH E NDE J ANUAR, ZWANZIG U HR DREISSIG
Es war wie damals, dachte Ruth und kuschelte sich noch tiefer unter die Decke, als sie von zu Hause ausgezogen war und ihre erste eigene Wohnung hatte. Kreuzberg 36, Seitenflügel, vierter Stock, Duschkabine in der Küche, Ofenheizung und Außenklo. Aber die ganz große Freiheit. In den ersten Monaten hatte es sich so großartig angefühlt, dass man tun und lassen konnte, was man wollte. Zum Mittagessen Cornflakes. Unter der Woche bis zwölf im Bett liegen bleiben. Niemals das Klo putzen und erst recht nicht aufräumen.
Die Freiheit, die sie sich heute herausgenommen hatte, war im Vergleich dazu nur relativ, aber es fühlte sich exakt genauso an. Ruth war nach dem Feierabend einfach ins Bett gegangen. Sie war um halb acht nach Hause gekommen, hatte noch im Flur Schuhe, Mantel und Tasche fallen lassen, hatte sich den Schlafanzug
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