Unschuldslamm
angezogen und einen Ingwertee gekocht. Und sich dann mit einem neuen Kochbuch ins Bett gefläzt. Von wegen Barbesuch! In den vergangenen drei kinderlosen Tagen hatte Ruth in sich hineingehorcht und festgestellt, dass sie keineswegs das Bedürfnis hatte, etwas zu unternehmen. Weder nach Ausstellung noch nach Kino und auch nicht nach Restaurant stand ihr der Sinn. Sondern nach dem ganz großen Hängenlassen. Sie hatte keine Lust, diszipliniert zu sein. Sie würde nicht einkaufen, nicht putzen und erst recht keine Büroarbeit machen. Sie musste schließlich schon das Restaurant schmeißen. Sie würde einfach nur die Zeit mit sich selbst genießen, sich ausruhen und sich freuen, dass sie für niemanden sorgen und niemandem Rechenschaft ablegen musste.
Kommenden Dienstag würde Annika von der Klassenfahrt zurückkommen, sie würde also den Montag, an dem das »La Paysanne« geschlossen hatte, nutzen, um die Wohnung wieder herzeigbar zu machen.
Es klingelte. Ruth warf einen Blick auf den Wecker. Wer kam um halb neun Uhr abends unangekündigt zu Besuch? Das konnte nur einer von Annikas Freunden sein, der nicht wusste, dass der Vogel ausgeflogen war. Aber Ruth dachte nicht daran, die Tür zu öffnen, sie erwartete niemanden, und sie würde sich Fremden garantiert nicht im Schlafanzug präsentieren. Zumal dieser aus einer ausgebeulten Flanellhose aus Johannes’ Altbeständen und einem Hello-Kitty-Big-Shirt bestand, das Annika irgendwann einmal aussortiert hatte.
Jetzt klingelte es wieder. Und wieder. Sturmklingeln.
Das Kochbuch flog auf den Boden, die Bettdecke hinterher, und Ruth stampfte zur Tür, entschlossen, dem unverschämten Besucher die Leviten zu lesen. Aber als sie öffnete, war sie einen Moment sprachlos. Es war ihr Sohn Lukas, der ein Sixpack Bier hochhielt und freudestrahlend »Überraschung!« rief. Er war neben Annika vermutlich der einzige Mensch, der ihren Aufzug nicht naserümpfend kommentieren würde, ja dem nicht einmal auffiel, wie schräg ihm seine Mutter gegenübertrat. Dafür kannte er sie zu gut.
Lukas zwängte sich an Ruth vorbei und steuerte zielstrebig die Küche an. »Ich dachte, du brauchst vielleicht ein bisschen Gesellschaft.«
Ruth schloss die Tür und folgte ihm. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie sich über den überfallartigen Besuch freuen sollte oder darüber ärgern, dass ihr der frühe Kuschelabend im Bett verhagelt wurde.
Vier Biere verschwanden im Kühlschrank, zwei öffnete Lukas sofort und musterte rasch den Inhalt des Kühlschrankes. »Hast du nichts Leckeres?«
»Ich hab’s nicht geschafft einzukaufen«, gab Ruth zurück und ärgerte sich sofort über ihre Reaktion. Sie war ihrem Sohn darüber doch keine Rechenschaft schuldig!
»Mmh«, maulte der und zog eine Ecke Ziegenbrie und eine Dose Sardinen hervor. Er legte alles auf Ruths Holztablett, nahm einen Rest Fladenbrot von vorgestern aus dem Brotkorb, wobei sein Stirnrunzeln nicht verbarg, dass er über die Ausbeute alles andere als begeistert war.
»Fühl dich wie zu Hause«, kommentierte Ruth spitz das Treiben ihres Sohnes. »Ich nehme mal an, dass du noch nichts gegessen hast?«
»Komm grad aus der Uni«, gab Lukas zurück, den Mund voll Fladenbrot.
Davon träumst du, dachte Ruth, behielt diesen Gedanken aber für sich. Sie hatte im vergangenen halben Jahr nicht unbedingt den Eindruck gewonnen, dass ihr Sohn ein eifriger Hochschulbesucher war. Wann immer man ihn anrief, lag er entweder noch im Bett oder zog um die Häuser oder war mit irgendeiner Art von Sport beschäftigt. Sie hatte noch nicht einmal so etwas gehört wie »Ich kann jetzt nicht, bin im Seminar« oder »Ich muss lernen«. Aber da bei ihr die Phase der zügellosen Freiheit nach spätestens zwei Semestern einer gewissen Anschlusspanik gewichen war und sie tatsächlich angefangen hatte, regelmäßig Seminare zu besuchen, hoffte Ruth inständig, dass es bei Lukas ebenso sein würde. Da war sie wieder, ihre unbedingte Hoffnung, die Kinder zur Eigenverantwortung erzogen zu haben. Geboren aus Erziehungsunlust, aber das wollte sich Ruth lieber nicht eingestehen.
In der Zwischenzeit hatte Lukas das Tablett bereits ins Wohnzimmer hinübergetragen. Er hatte sich aufs Sofa geschmissen und grinste Ruth breit an. »Na, schön so allein?«
»Danke der Nachfrage.« Ruth ließ sich in den Sessel plumpsen, zog die Füße unter sich und griff nach der Bierflasche. »Eigentlich trinke ich ja nichts diese Woche.«
Statt einer Antwort zog Lukas nur eine
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