Unschuldslamm
Aber jetzt, wo Sie mich fragen … Es war ein bisschen befremdlich.
B ERLIN- W ESTEND, B AHNHOF H EERSTRASSE,
EINE N ACHT VON S AMSTAG AUF S ONNTAG
IM A UGUST DES V ORJAHRES, NULL U HR FÜNFZIG
Die S-Bahn fuhr in den Bahnhof ein, die Bremsen kreischten schrill, und Derya drehte sich von der Frau weg, die sie aufgehalten hatte.
»Sorry, aber das ist meine Bahn. Ich muss jetzt …«
»Nicht. Nimm die nächste.« Sibylle Bucherer packte Derya am Handgelenk. Ihre Finger waren sehnig und muskulös und zeugten davon, dass die schmale Frau mehr Kraft hatte, als Derya auf den ersten Blick vermutet hätte.
Derya ging ein paar Schritte rückwärts in Richtung Gleise. Sie wandte den Kopf. Die Bahn war halb leer, keine Tür hatte sich geöffnet, niemand war ausgestiegen. Sie fühlte sich unwohl, wollte weg von Valis Mutter. Die Alte war ihr unheimlich, außerdem war es jetzt schon verdammt spät, sie wollte nach Hause. Derya dachte an ihre Eltern. Sie fühlte sich mies, dass sie sie angelogen hatte, von wegen, Michelles Mutter würde sie nach Hause fahren.
»Ich kann dich nachher nach Hause fahren. Bitte, ich will mit dir reden, Derya.« Sibylle Bucherer verstärkte ihren Griff.
Das Signal für die bevorstehende Abfahrt der S-Bahn ertönte. Derya wusste, dass sie jetzt entweder entschlossen handeln musste, sich losreißen, die Tür aufdrücken und in die Bahn springen. Oder bleiben.
Sie blieb stehen. »Okay. Aber die nächste muss ich echt nehmen. Meine Eltern flippen sonst aus.«
Die Bucherer nickte. Sie sah erleichtert aus. Derya kapierte nicht, was die von ihr wollte. Wenn sie bei Vali war, sprach die Mutter kaum ein Wort mit ihr. Und jetzt plötzlich, mitten in der Nacht …
»Ich lade dich oben noch auf was zu trinken ein. Das Café an der Ecke hat vielleicht noch auf.«
Sibylle Bucherer ging vor ihr die Treppe hoch und nickte einladend. Trotzdem war es Derya nicht wohl. Hätten sie nicht irgendwann anders reden können? Sie spürte plötzlich, dass sie zu viel getrunken hatte, sie war müde und fröstelte. Aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück.
Sie folgte der Bucherer zum Ausgang Boyenallee. Die Alte sah sich um, natürlich hatte das Café nicht mehr auf. Der Kellner stellte schon die Stühle hoch. Im Garten saßen noch ein paar Leute, aber die Leuchtschrift war bereits ausgeschaltet. Derya zeigte mit dem Kinn in Richtung des kleinen Platzes. Das benachbarte Büchercafé war schon längst geschlossen, aber unter den Platanen standen noch Bierbänke. Sie überquerten die Straße, an der eine große schwarze Mercedes-Limousine mit laufendem Motor stand, und peilten eine der Bänke an. Derya ließ sich darauf fallen und kramte eine Kippe aus ihrer Handtasche. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Valis Mutter sie beobachtete. Obwohl sie nur noch drei Kippen in der Packung hatte, fühlte sie sich irgendwie verpflichtet, der Alten eine anzubieten. Die Bucherer schüttelte erst den Kopf, griff dann aber doch zu.
»Ich rauche eigentlich nicht«, nuschelte sie, während Derya ihr das Feuer hinhielt.
Jetzt fiel Derya erst auf, dass die Frau besoffen war. Die Augen waren blutunterlaufen, die Hände zitterten, und sie hatte eine monstermäßige Fahne. Scheiße, dachte Derya. Wäre ich bloß in die Bahn gestiegen.
»Raucht Valentin auch?« Sibylle Bucherer stieß den Rauch langsam und genüsslich durch die Nase aus, und Derya schien es, als wäre Frau Bucherer das Rauchen durchaus gewöhnt.
»Nein. Nie.«
»Und was anderes? Kiffen?«
»Sitzen wir deshalb hier? Nachts, kurz vor eins, weil Sie von mir wissen wollen, wie brav Ihr Sohn ist?« Derya fasste es nicht. Warum war sie so blöd gewesen und hatte die Bahn fahren lassen? Sie wusste doch, dass Valis Mutter ein Rad ab hatte. Vali hatte ihr oft genug erzählt, dass seine Mom nicht richtig tickte.
Sibylle Bucherer sagte nichts. Sie rauchte, den Kopf in den Nacken gelegt, und blickte in das dunkle Blätterdickicht der Zweige über ihnen.
»Derya«, sagte sie nur, und diese verdrehte die Augen.
»Du kannst gerne Sibylle zu mir sagen«, fuhr die Alte fort, und Derya fragte sich, ob es noch schlimmer kommen konnte. Die Bucherer war hackedicht. Neben der könnte sie noch stundenlang hocken, ohne dass die damit rausrückte, was sie von ihr wollte. Vermutlich hatte sie selbst keinen Plan.
»Ist schon gut«, antwortete Derya. Verstohlen fischte sie in der Handtasche nach ihrem Handy. Sie würde Aras eine SMS schreiben. Der sollte kommen und sie holen, sonst würde sie
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