Unschuldslamm
Augenbraue hoch.
Ruth lachte, und sie prosteten sich zu. »Weil Einsamkeitstrinken elend ist. Aber heute habe ich ja Gesellschaft.«
Sie tranken einen Schluck, und während sie ihrem Sohn dabei zusah, wie er sich heißhungrig mit dem alten Brot, den Sardinen und dem Käse vollstopfte, erzählte Ruth ein bisschen über ihr Schöffenamt. Lukas zeigte freundliches Interesse, aber auch nicht mehr, was Ruth nur recht war. Sie hatte beschlossen, sich das Verfahren künftig nicht mehr so zu Herzen zu nehmen, dass es ihr Privatleben bestimmte. Der Prozess um das getötete Mädchen verfolgte sie ohnehin bis in ihre Träume, sie musste aufpassen, dass sie nicht nur darum kreiste. Also erzählte sie Lukas gerade so viel, dass seine Neugier befriedigt war, aber sie ging nicht ins Detail. Ihm schien das zu reichen.
»Hast du was von Anni gehört?«, erkundigte er sich mit vollem Mund. Anni war sein Spitzname für die jüngere Schwester. Nur Lukas nannte sie so, allen anderen hatte Annika es verboten.
Ruth schüttelte den Kopf. Lukas lachte und zuckte die Schultern. »Hab ich mich gemeldet, damals?«
»Nein.« Ruth erinnerte sich mit Schaudern. Lukas war mit seiner Klasse nach Brighton gefahren, und nach zehn Tagen absoluter Funkstille hatte Ruth die grünweiße Leiche ihres Sohnes am Busbahnhof aufgesammelt. Später hatte sie sich aus den spärlichen Informationen zusammengereimt, wie die Jungs in der Klasse die zehn Tage verbracht hatten: trinkend. »Und ich glaube, ich bin auch ganz froh drum«, fügte sie nun hinzu.
Lukas lachte, sie fiel mit ein. Jetzt, wo er ihr gegenübersaß, spürte Ruth, wie sehr sie ihren Sohn vermisst hatte. Eine Welle von mütterlicher Zuneigung wallte in ihr auf, während sie ihn betrachtete. Lukas hatte ihre Locken geerbt, zu seinem großen Ärger, und trug diese raspelkurz geschnitten. Damals, auf der Klassenfahrt, hatte er sie noch lang getragen und beinahe einen blonden Afro gehabt. Jetzt sah er irgendwie adrett und gepflegt aus. Er hatte einen richtigen Haarschnitt, trug ein sauberes T-Shirt und war frisch rasiert – ein untypischer Anblick für Lukas, der sich bis vor kurzem noch ganz gerne nerdmäßig gehenließ. Vielleicht hat er eine Freundin, dachte Ruth und schämte sich dafür, dass der Gedanke von einem kleinen Stich im Herzen begleitet wurde. Rasch stand sie auf und plünderte, um ihre sentimentale Stimmung zu überspielen, in der Küche ihre Vorräte für den hungrigen Sohn.
»Wie geht’s eigentlich Opa?«, rief dieser ihr aus dem Wohnzimmer in die Küche hinterher.
Während sie die Vorratsschränke nach Essbarem durchwühlte, wunderte sich Ruth über diese Frage. »Wieso fragst du? Hast du mit ihm gesprochen?«
Sie wechselte wieder ins Wohnzimmer. Lukas stopfte sich gerade ein zusammengeklapptes Fladenbrot mit Ziegenkäse in den Mund und nickte.
Ruth breitete die Schätze aus der Vorratskammer auf dem Tisch aus. »Dann weißt du ja, dass es ihm nicht gutgeht. Das Herz. Telefoniert ihr öfter?«
Ihr Sohn hatte das Brot heruntergeschluckt und spülte mit Bier nach, bevor er antwortete. »Manchmal. Opa ruft ab und zu bei mir an. Er hat natürlich immer irgendeinen Vorwand, dass er mit dem PC nicht klarkommt und so. Aber eigentlich will er quatschen.«
Ruth nahm das gerührt zur Kenntnis. Sie wusste, dass ihr Vater immer schon eine besonders enge Beziehung zu Lukas hatte, er schien sich selbst in ihm wiederzuerkennen. Aber dass die beiden regelmäßig telefonierten, war ihr neu.
»Ich habe gestern lange mit ihm gesprochen«, gab sie zurück, während sie an der Salzbutter schnüffelte, die sie in den Untiefen des Kühlschrankes ausfindig gemacht hatte. »Er macht sich Sorgen und ist auch ziemlich deprimiert. Aber das will er natürlich nicht zugeben.«
»Ist das schlimm, Vorhofflimmern?«
Ruth zuckte mit den Schultern. Ihr Vater hatte den Befund des Arztes total heruntergespielt, ihre Mutter dagegen war hysterisch in Tränen ausgebrochen. Sie selbst hatte gestern Abend im Internet geforscht, aber demzufolge stand ihrem Vater der Tod direkt bevor, und so hatte sie es schließlich aufgegeben, um sich nicht vollends von den Diagnosen im Netz deprimieren zu lassen. Ihr Vater hatte etwas am Herzen, und er sollte sich schonen. Er hatte zu hohen Blutdruck, und seit er Rentner war, zu wenig Bewegung, trotz seines Sportfimmels. Aber es stellte sich heraus, dass er schon lange nicht mehr Tennis spielte, sich weigerte, spazieren oder gar walken zu gehen, und lieber die Zeit am
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