Unschuldslamm
Schreibtisch verbrachte. Ruth hatte im Lauf des Telefonats festgestellt, dass sie verdammt wenig vom Leben ihrer Eltern wusste. Seit sie das »Paysanne« hatte und die Kinder ihre Ferien nicht mehr bei den Großeltern verbrachten, hatte sie diese nicht mehr besucht – seit mehr als fünf Jahren also. Es waren immer ihre Eltern gewesen, die sich auf die Reise gemacht hatten, und in der einen Woche im Jahr, die die beiden bei ihr verbrachten, hatte sie nicht den Eindruck gewonnen, dass es ihnen schlechtging.
Aber jetzt musste Ruth sich eingestehen, dass sie irgendwie den Draht zu den beiden verloren hatte. Sie hatte sich vorgenommen, mal mit Regine darüber zu sprechen, ihrer Schwester. Sie wohnte mit ihrer Familie im gleichen Ort wie die Eltern und pflegte engen Kontakt mit diesen. Aber Ruth verschob das Telefonat auf irgendwann Ende der Woche und hoffte auf baldige Entwarnung von ihren Eltern.
»Mach dir keine Sorgen, Luki. Opa muss einfach sein Leben umstellen. Er ist ein bisschen eingerostet. Das wird wieder. Er ist doch unverwüstlich.«
Lukas nickte, aber er glaubte ihr nicht. Das konnte sie seinem skeptischen Gesichtsausdruck deutlich ansehen.
»Ich hab überlegt, ob ich mal runterfahre. Ihn besuchen«, sagte er und musterte sie dabei.
»Das …«, Ruth war völlig überrumpelt, »das wäre bestimmt super. Oma und Opa freuen sich wahnsinnig, wenn du kommst. Ich kann leider nicht weg, falls du gehofft hast, dass wir mit dem Auto fahren.«
»Nee, schon okay. Ich mach Mitfahrer.«
»Kannst du denn einfach so weg, mitten im Semester?«
»Klar.« Eine detaillierte Antwort bekam Ruth nicht, denn Lukas drückte sich elegant, indem er aufstand, um sich eine zweite Flasche Bier zu holen. Sie wusste genau, woher der Wind wehte. Ihr Sohn war froh um jede Ablenkung, die ihn vom ernsthaften Studieren abhielt. Und die Großeltern würden ihn nicht nur mit Liebe, sondern auch mit allen möglichen materiellen Dingen, von Geld mal abgesehen, eindecken. Aber Ruth wollte jetzt nicht kleinlich sein. Wenn Lukas ihre Eltern besuchte, half das allen, nicht zuletzt den beiden alten Leutchen.
Gemeinsam machten sie im Lauf des Abends noch ein Glas Oliven und getrocknete Tomaten nieder, fielen über Schüttelbrot und eine winzige Dose mit Confit de Canard her. Sie sprachen über alles Mögliche, ohne allzu lange bei einem Thema zu verweilen. Sie hatten Spaß, und Ruth spürte das enge Band zwischen ihnen. Es war wie immer, sie waren eine Einheit, sie und ihr Kind, ihre Kinder. Das Band war nicht zerrissen, obwohl sie Lukas nicht mehr so oft sah. Kurz vor Mitternacht schmiss sie ihn dann aber doch raus, die Nacht würde wieder eine viel zu kurze werden.
Im Flur nahm Lukas sie in den Arm, und Ruth genoss es. Sie war so stolz auf ihn, auf alles, was er dachte, sagte und tat. Auf die Art, wie er in der Welt war.
»Es war so schön, dass du hier warst, danke«, sagte sie zum Abschied und hielt ihm die Tür auf.
»Ja, war super.« Lukas war schon zur Hälfte im Treppenhaus, als er stoppte und verlegen mit einem Fuß auf den anderen trat. Ruth wusste, was jetzt kam. Sie kannte ihn zu gut. Sie hätte gleich zum Portemonnaie greifen können, aber so leicht wollte sie es ihm dann doch nicht machen. Er sollte schon ein bisschen leiden.
Tatsächlich schien es ihm unangenehm zu sein, aber auch nur ein bisschen. Er hatte einfach zu viel Übung im Betteln.
»Mom, hast du vielleicht ’nen Hunni, den du mir leihen kannst?«
A NKARA, IN DER N ACHT VON M ITTWOCH
AUF D ONNERSTAG, E NDE J ANUAR
Die Packung mit den Valium lag nur wenige Zentimeter entfernt neben ihr. Sergul versuchte, nicht an die Packung zu denken, aber je länger sie wach lag, desto schwerer fiel es ihr. Sie hatte bereits eine genommen. Eine ganze, nicht eine halbe, wie ihr Plan es vorschrieb. Aber das war schon am frühen Abend gewesen. Seitdem hatte sie vor sich hin gedämmert, war erst vor dem Fernseher eingeschlafen, dann wieder aufgewacht. Hatte die halbe Flasche Weißwein getrunken und war dann zu Bett gegangen, in der Hoffnung auf Schlaf. Eine trügerische Hoffnung, natürlich. Wie seit Monaten schon. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Nachttischschublade öffnen, die Packung herausnehmen und eine Tablette aus dem Blister drücken würde.
Aber sie wollte sich beweisen, dass sie es im Griff hatte. Stattdessen machte sie das Licht an und griff nach dem iPad, das immer in Reichweite war. Ihr Nabel zur Welt. Sie verließ ihr Apartment seit einem halben Jahr
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