Unschuldslamm
nicht einen Millimeter nach vorne bewegt hatte, schickte einen Luftkuss durch die Scheibe, knallte den ersten Gang rein und jagte mit quietschenden Reifen aus der Hofeinfahrt. Sie verzichtete darauf, sich im Rückspiegel zu vergewissern, ob die Walkerin sich das Kennzeichen notierte oder nicht.
Wenig später reihte sie sich in die Kurzhalteschlange vor dem Hauptbahnhof ein und hielt nach ihrer Tochter Ausschau Sie konnte Annika zwischen den vielen Passanten nicht entdecken, und da es völlig illusorisch war, einen regulären Parkplatz zu ergattern, drehte sie noch zwei weitere Runden zwischen den anderen Autos. Schließlich entdeckte sie Annika. Ihre Tochter zerrte ihren riesigen roten Koffer hinter sich aus der Drehtür. Den Kopf hielt sie gesenkt und war offensichtlich mit ihrem Handy beschäftigt, anstatt nach dem Wagen ihrer Mutter Ausschau zu halten. Ruth war also gezwungen zu halten, obwohl sich hinter ihr schon eine Schlange gebildet hatte, und kaum hatte sie die Fahrertür geöffnet, um auf sich aufmerksam zu machen, hupten die ersten hinter ihr bereits. Sie rief und wedelte mit den Armen, aber Annika schenkte ihr keinen Blick. Ruth setzte sich zwangsläufig wieder in den Wagen, fuhr eine weitere Runde und stellte sich dann völlig verboten auf den Bürgersteig unterhalb der großen Freitreppe. Dort tippte sie eine SMS an ihre in Rufweite stehende Tochter, weil sie wusste, dass sie auf andere Art und Weise niemals auf sich würde aufmerksam machen können.
Tatsächlich hob Annika den Kopf und sah sich suchend um, kaum dass Ruth die Nachricht abgesandt hatte. Ruth fiel auf, wie blass ihre Tochter war. Vermutlich hatte sie in Florenz kein Auge zugetan. Ob sie auch so heftig Party gemacht hatte wie weiland Lukas?, fragte sich Ruth besorgt.
Annika hatte den Doblo erreicht, und Ruth war ausgestiegen, um ihr die Türen zum Kofferraum zu öffnen.
»Hallo, meine Süße«, sagte sie erfreut und wollte ihre Tochter liebevoll in den Arm nehmen.
»Hallo, Mama«, gab diese lahm zurück und gab Ruth ein distanziertes Bussi auf die Backe. Obwohl nun sämtliche Mutter-Alarmglocken schrillten, konnte Ruth es sich, kaum waren sie beide eingestiegen, nicht verkneifen, beleidigt darauf hinzuweisen, dass sich Annika nicht ein einziges Mal von der Klassenfahrt gemeldet hatte – in zehn Tagen!
»Du sagst doch immer, wir sollen im Ausland unser Handy nicht benutzen«, gab Annika schnippisch zurück und sah starr durch das Beifahrerfenster. Sie vermied krampfhaft jeden Augenkontakt, und auch aus dem sonstigen Verhalten ihrer Tochter las Ruth heraus, dass die Klassenfahrt auf gar keinen Fall ein Erfolg gewesen war.
»Erzähl mal, wie war’s denn?«, machte sie dennoch einen Vorstoß und knuddelte Annika liebevoll den Oberschenkel, während sie sich in den Verkehr einfädelte.
»Schon okay«, murmelte Annika.
»Ich bring dich nach Hause, dann kannst du es dir ganz gemütlich machen, auspacken, baden, was weiß ich. Ich muss noch mal ins Bistro, aber für heute Abend habe ich für uns beide eine Quiche Lorraine vorbereitet, mit Salat, und dann erzählst du mir alles, ja?« Ruth versuchte, mit ihrem betont heiteren Gequatsche die gedrückte Stimmung im Auto etwas aufzulockern, aber es wollte ihr nicht gelingen. Annika hatte weiter den Kopf abgewandt und tat so, als würde sie die graue vorbeiziehende Moabiter Stadtlandschaft rasend interessieren.
Noch während Ruth überlegte, ob es sinnvoll war, ihrer ohnehin depressiv verstimmten Tochter die schlechten Neuigkeiten über ihren Großvater zuzumuten, begannen Annikas Schultern haltlos zu zucken, und das Mädchen presste beide Handballen vor die Augen.
Kurz entschlossen bremste Ruth und fuhr rechts an den Straßenrand. Sie legte einen Arm um die bebenden Schultern ihrer Tochter, mit der anderen Hand streichelte sie sanft deren Hände. Es dauerte gefühlte fünf Minuten, bis Annika in der Lage war, einen einigermaßen verständlichen Satz hervorzubringen.
»Raul hat Schluss gemacht«, stieß sie verzweifelt hervor, bevor sie erneut in Tränen ausbrach.
Vergeblich kramte Ruth in ihrem Gedächtnis nach einem passenden Gesicht zu dem Übeltäter, aber zu Raul mochte ihr einfach gar nichts einfallen. War der schon einmal bei ihnen zu Hause gewesen? Hatte Annika von ihm erzählt, und wenn ja, was?
Ihre Tochter schien trotz der Tränen ihre Ratlosigkeit bemerkt zu haben und sah ihre Mutter mit tränenverschleiertem Blick an.
»Du weißt gar nicht, wer Raul ist, oder?«
Hilflos
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