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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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herrschte Regine sie an, sobald sie abgenommen hatte.
    Ruth hatte weder die Nerven, zurückzuschnauzen, noch sich zu erklären. »Was ist mit Papa?«
    »Sie schieben ihn gerade durch die Röhre«, gab Regine übellaunig zurück. Typisch Regine. Anstatt sich Sorgen zu machen, war sie einfach nur schlecht drauf, vermutlich, weil es ihr nicht passte, Papa ins Krankenhaus zu bringen, dachte Ruth. So war sie immer schon gewesen. Ich, ich, ich.
    »Was ist mit ihm?«, erkundigte sie sich besorgt.
    »Mama hat den Notarzt gerufen. Für alle Fälle. Er hatte wieder diese Schmerzen im Arm und in der Schulter.« Regines schlechte Laune schien zu weichen, Ruth hörte nun doch Besorgnis durch. »Dazu hat er diesen Druck auf der Brust. Er war wohl im Garten, die Vogelhäuschen auffüllen, und konnte nicht mehr atmen.«
    »O Gott. Und Mama?«
    »Die sitzt hier neben mir. Willst du sie sprechen?«
    Ihre Mutter war erstaunlich beherrscht. Ruth telefonierte einige Minuten mit ihr, und außer dem leichten Zittern in der Stimme hielt sich ihre Mutter ausgesprochen tapfer. Papa war bei vollem Bewusstsein ins Krankenhaus eingeliefert worden und wurde jetzt von Kopf bis Fuß durchgecheckt. Vielleicht war es bereits ein winziger Herzinfarkt, wie sich ihre Mutter ausdrückte, oder aber ein Anzeichen auf einen solchen. Im Gespräch mit Ruth machte sich ihre Mutter vor allem darüber Luft, dass ihr Mann sich geweigert hätte, die Ratschläge des Arztes bezüglich Ernährungsumstellung und Bewegung zu befolgen. Nun sei er selbst schuld an der Misere. Natürlich wusste Ruth, dass der Ärger ihre Mutter lediglich davor schützte, vor Angst und Kummer zusammenzubrechen, deshalb pflichtete sie ihr bei. Schließlich gab ihre Mutter sie wieder zurück an Regine. Den Geräuschen nach schlussfolgerte Ruth, dass ihre Schwester mit dem Telefon den Warteraum verließ und irgendwo hinging, wo sie ungestört sprechen konnte.
    »Und, wann kommst du?«, fragte ihre Schwester schließlich.
    »Was heißt, wann komme ich?« Ruth schwante, dass sie ab sofort vermintes Terrain betrat. »Ich kann hier nicht weg. Das weißt du doch.«
    Regine schnaubte missbilligend.
    »Ich kann den Laden nicht allein lassen, die Kinder …«
    »… sind schon groß, Ruth. Lukas braucht dich nun wirklich nicht mehr, und du kannst mir doch nicht erzählen, dass du Annika nicht alleine lassen kannst. Sie ist sechzehn!«
    Es war die immer gleiche, immer gleich böse Auseinandersetzung. Sobald es etwas gab, das erforderte, dass sich jemand um die Eltern kümmern musste, etwas, das über Aufmerksamkeit hinausging, gerieten die Schwestern darüber in Streit. Regine wohnte nur ein paar Straßen vom Haus der Eltern entfernt, sie war also nah dran und entsprechend gefordert. Sie hatte drei Kinder, die wesentlich jünger waren als die von Ruth, und Regine profitierte davon, dass ihre Eltern jederzeit ungefragt Babysitterdienste übernahmen. Ruth fand also, dass Regine einen klaren Deal eingegangen war: Ihre Eltern standen ihr bei der Kinderbetreuung bei, dafür musste sie zur Stelle sein, wenn die Eltern einmal Hilfe benötigten. Sie, Ruth, war zu weit weg, um einzuspringen, war aber auch nie in den Genuss der Betreuungsunterstützung gekommen.
    Aber Regine sah das anders. Sie hatte immer schon das Gefühl gehabt, die benachteiligte Tochter zu sein, sie empfand sich als zu kurz gekommen, und spätestens, als die Eltern Ruth ihr Erbe vorzeitig ausgezahlt und ihr so die Existenzgründung ermöglicht hatten, sah Regine sich im Hintertreffen.
    »Das ist ja so bequem, Ruth. Du hast immer was, das du vorschieben kannst. Als wenn das Bistro nicht mal ohne dich läuft?!«
    »Es ist doch niemandem geholfen, wenn ich für ein paar Tage runterkomme«, entgegnete Ruth, betont sanft, sie wollte nicht noch Öl ins Feuer gießen, obgleich es sie sehr viel Beherrschung kostete, nicht einfach aufzulegen. Sie wusste ja, was kam. Der immer gleiche Sermon. Aber sie hatte sich getäuscht.
    »Du hast keine Ahnung«, gab Regine zurück. »Wann hast du Mama und Papa das letzte Mal gesehen?«
    »Weiß nicht. Vor einem Jahr ungefähr.«
    »Sie sind alt geworden«, sagte ihre Schwester leise. »Und Papa hat Depressionen.«
    »Was? Quatsch, Reggie. Das hätte Mama mir gesagt. Und Lukas hat auch erzählt, wie gut der Opa drauf war.« Lukas hatte sein Versprechen gehalten und das Wochenende bei ihren Eltern verbracht. Er war am Sonntagabend wieder nach Hause gekommen und hatte sie gleich angerufen. Natürlich hatten die

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