Unschuldslamm
T-Shirt trug, in der letzten Reihe der Orchesterformation, dort, wo die Blechbläser standen. Er überragte einige seiner Mitspieler, und so konnte Ruth beobachten, wie er sich mit dem neben ihm stehenden Jungen unterhielt. Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter wirkte Valentin heute locker und gelöst. Die Trauer, die er im Gerichtssaal an den Tag gelegt hatte, war von ihm abgefallen, und Ruth fragte sich, ob diese lediglich geschickt gespielt oder aber er durch das Aufdecken der gemeinsamen Lüge mit seiner Mutter von einer Gewissenslast befreit war. Jetzt lachte er und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er sah unverschämt gut aus, und Ruth war sicher, dass ihm die Herzen der Mitschülerinnen zuflogen, erst recht mit der tragischen Geschichte im Hintergrund. Nun kam der Einsatz der Bläser, und Valentin hob sein Instrument an den Mund. Er spielte Trompete, eine eigentümliche Wahl für einen so coolen jungen Mann, fand sie, musste aber zugeben, dass er ziemlich lässig wirkte. Unwillkürlich warf Ruth einen Blick zu Sibylle Bucherer und sah, wie diese die Lippen aufeinandergepresst hatte. Sie schien unter enormer Anspannung zu stehen, und Ruth mutmaßte, dass die Geschehnisse im Gericht nicht eben zu einem besseren Verhältnis zwischen Mutter und Sohn beigetragen hatten.
In der Pause holte Ruth sich ein Getränk und versuchte, einen möglichst weiten Bogen um die Bucherers zu machen. Valentin konnte sie ohnehin nirgends entdecken, und die Eltern drückten sich samt dem jüngsten Sohn in einer weniger belebten Ecke des Raumes herum, wohl um neugierigen Fragen aus dem Weg zu gehen. Schließlich waren die Presseberichte über die unerwartete Wendung in der Verhandlung kaum zu übersehen gewesen.
Die Mutter einer Freundin von Annika sprach Ruth an, und sie unterhielten sich eine Zeitlang über Teenager im Allgemeinen und schulische Probleme im Besonderen, bis Ruth sich auf die Toilette verabschiedete. Der zweite Teil des Konzertes würde in wenigen Minuten beginnen, und sie beeilte sich.
Als sie sich in der Mädchentoilette die Hände wusch und sich wie immer über die unhaltbaren hygienischen Zustände in den Schultoiletten wunderte, sah sie im Spiegel, wie sich in ihrem Rücken die Tür einer Kabine öffnete und Sibylle Bucherer heraustrat. Erschrocken senkte Ruth den Kopf und hoffte, unerkannt aus dem Waschraum verschwinden zu können, als die Galeristin bereits neben sie trat und den Wasserhahn öffnete. Ruth linste unter ihrer Lockenmähne vorsichtig hervor und traf mit ihrem Blick sofort auf den der Frau neben ihr. Sie grüßte knapp und wollte sich gerade umdrehen, als die Bucherer die Stirn runzelte und sie nachdenklich musterte. Kaum hatte Ruth die Klinke in der Hand, hörte sie, wie Valentins Mutter in ihren Rücken sagte: »Wir kennen uns vom Gericht.«
Langsam drehte sich Ruth um und sah sich nun gezwungen, den Satz zu sagen, den sie Hannes Eisenrauch so übelgenommen hatte. »Wir dürfen uns nicht unterhalten.«
»Was?« Sibylle Bucherer sah sie ebenso verständnislos an wie sie weiland den Staatsanwalt.
Ruth beeilte sich, der Frau zu erläutern, dass sie diese Weigerung nicht persönlich nehmen solle, sondern dass es sich dabei um eine gesetzliche Vorgabe handelte, die jegliche Form der Einflussnahme verhindern sollte, aber die Bucherer schnitt ihr das Wort ab.
»Sie wollen mir ausweichen. Es ist Ihnen unangenehm, sich mit mir zu unterhalten. Ich sehe doch, dass Sie am liebsten flüchten würden.« Die Galeristin hatte sich vom Waschbecken gelöst und ging auf Ruth, die schon mit dem Rücken zur Toilettentür stand, zu.
»Nein, bitte, Sie missverstehen mich«, wollte sie sich rechtfertigen, aber Frau Bucherer war offensichtlich ziemlich in Fahrt und ließ sich nicht ohne weiteres stoppen. Den Grund dafür hatte Ruth deutlich in der Nase. Sibylle Bucherer hatte eine Fahne.
»Ach, kommen Sie schon, wer soll uns denn hier sehen?« Die Galeristin sah sich demonstrativ um und breitete theatralisch die Arme aus. »Niemand. Oder soll ich jede Toilettentür aufreißen, damit Sie ganz sicher sind?«
In dem Wissen, dass dieses Gespräch zu nichts Gutem führen würde, wollte Ruth energisch die Tür öffnen und sich verabschieden, zumal draußen bereits die ersten Klänge des großen Chores erklangen, aber Valentins Mutter drückte die Tür mit der linken Hand kraftvoll wieder zu und stellte sich ganz nah vor Ruth. »Bitte«, sagte sie, jetzt mit fast flehendem Unterton, »bitte, Sie müssen mir
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